München nach Attentat in Angst und Trauer

​«Papa, die schießen noch»

Foto: epa/Sven Hoppe
Foto: epa/Sven Hoppe

MÜNCHEN (dpa) - München im Ausnahmezustand: Schüsse in einem Einkaufszentrum, neun Opfer und der Täter tot. Trauer, Angst und Fassungslosigkeit haben die sonst so friedliche Landeshauptstadt im Griff. Die Menschen gedenken der Toten und suchen einen Weg in die Normalität.

Es ist die Fassungslosigkeit am Morgen danach: Mit einem Strauß roter Rosen steht Naim Zabergja auf der Rückseite des Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) im Nordwesten Münchens. In der Hand ein Foto: Der 20-Jährige darauf lächelt offen und freundlich in die Kamera, die Haare sorgsam gestylt. «Das war mein Sohn», sagt Zabergja und hält die Fotografie in die Kamera. Nun ist der junge Mann tot, so wie der Täter und acht andere Opfer, darunter mehrere Jugendliche.

Rings um den Ort, wo am Freitagabend die Schüsse fielen, legen Passanten, Freunde und Angehörige immer wieder Blumen und Kerzen nieder. Auch Politiker wie Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Vertreter der Kirchen spenden Blumenkränze und beten gemeinsam für die Toten und die Verletzten.

Das OEZ in einem einfacheren Stadtviertel im Nordwesten Münchens, in dem viele Migranten wohnen, bietet viele Restaurants und Geschäfte. Große Ketten sind hier vertreten. Bei Jugendlichen ist es ein beliebter Treffpunkt. Auch Zabergjas Sohn hatte sich dort mit einem Freund verabredet. An diesem schwülwarmen Sommerabend saßen sie draußen, sie wollten eine Limo trinken. Doch dann kam der Amokschütze und feuerte Schüsse ab.

«Sein Freund ist weggelaufen, meinen Sohn hat er getötet», erzählt Zabergja, der aus dem Kosovo stammt. Seine Stimme wird heiser, doch er redet weiter. Zwei Töchter hat er noch, vier Enkel. Dijamant war der einzige Sohn, geboren in München. Er machte eine Ausbildung am Flughafen. Dass der 20-Jährige jetzt tot sein soll - für den Vater schwer zu begreifen. Am Samstagmorgen um 4 Uhr sei die Polizei vor der Tür gestanden und habe ihm die schreckliche Nachricht überbracht. «Ich bin noch in Träumen, ich glaube noch nicht, was passiert ist, auch meine Familie glaubt es noch nicht.»

Wenig später will ein kleiner Junge Teelichte an der provisorischen Gedenkstätte anzünden. Immer wieder müht er sich mit dem Feuerzeug ab, immer wieder löscht ein sanfter Wind die Flamme. Der Dreijährige war mit seinem Vater beim Einkaufen, als die Schüsse fielen. «Ich wohne gleich um die Ecke, ich habe meinen Sohn so schnell wie möglich nach Hause gebracht», erzählt der Mann mit kurdischen Wurzeln, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Er wirkt geschockt. «Ich habe die Verletzten gesehen, zwei Leichen, die bluten», erinnert er sich. «Ich habe mit einer Mutter eines Verletzten gesprochen, dass es ihrem Sohn gut geht und er sagte, ich will nicht sterben, aber ich sterbe. Das hat mich fast fertig gemacht.» Auch sein Sohn muss das Erlebte noch verarbeiten. «Der Junge fragt mich immer wieder: «Papa, die schießen noch.» Schrecklicher Moment, den wir gesehen haben.»

Erwin Tieslau und seine Lebensgefährtin kamen gerade nach Hause, als das Attentat in vollem Gange war. Ein junger Mann suchte Zuflucht in ihrer Tiefgarage. Und hinter einem Mäuerchen kauerten zwei Frauen und ein Kind. «Wir haben sie mit in die Wohnung genommen», sagt Tieslau. Wie viele Münchner bewundert er die Polizei. Davon zeugt ein Plakat, das an einem Baum klebt: «Danke, dass Sie noch Schlimmeres verhindert haben!»

Die Trauer um die Opfer ist groß. Während anderswo in München wieder der Verkehr rollt und U-Bahnen fahren, herrscht hier Stillstand. Das Einkaufszentrum bleibt zu. Anwohner stehen zusammen, um gemeinsam zu begreifen, was geschehen ist. Wo sonst geschäftiges Treiben herrscht, ist nun eine Meile des Schreckens und des Gedenkens. Links das Schnellrestaurant, in dem die ersten Schüsse fielen, verdeckt von einer schwarzen Plane. Von hier aus rannte der Täter über die Straße, ein paar Stufen hoch und ins Einkaufszentrum hinein. Wieder Schüsse. Auch hier ist alles verhangen, es wimmelt von Polizisten.

Überall haben Journalisten ihre Kameras aufgebaut. Sie berichten in alle Welt, viele von ihnen live: Japan, Israel, Italien, Frankreich und andere Länder. Und sie filmen die Trauernden und die Neugierigen. Manche erzählen bereitwillig, was sie erlebt haben. Andere bahnen sich mit versteinerter Miene einen Weg an die Absperrgitter, wo schon viele bunte Blumen, Kerzen, Briefe und ein Kuscheltier liegen. Ein Paar, tränenüberströmt, klammert sich verzweifelt aneinander. Ein Mann verliert die Fassung und schreit: «Es tut mir so leid!». Mädchen wischen sich Tränen aus dem Gesicht und ein knieender Mann ist im Gebet versunken.

Viele traurige Momente. Doch manche bleiben erstaunlich locker. Ein kleines Mädchen posiert vor einem rot-weißen Polizeiflatterband. Der Vater hockt sich daneben und schießt Selfies. Beide lächeln in die Handykamera, während wenige Meter weiter Menschen verzweifeln.

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