Mon Dieu– die toten Seelenverwandten

Ein Pattayaner auf Sommerreise Teil 4: Paris

Flugrattenabwehr a la Francaise auf Pariser Balkonsimsen.
Flugrattenabwehr a la Francaise auf Pariser Balkonsimsen.

An der Pariser Gare de Lyon anzukommen, ist einfach, dort ein Schliessfach zu finden, sauschwer. Ich wohne bei Christoph, den ich aus seiner Zeit in Thailand kenne. Er ist ein Versicherungshengst, der in Thailand bei der Zürich Versicherung gearbeitet hat, die ja heute Thai Sri heisst. Seine Frau Danielle war Bankerin in Bangkok. Jetzt arbeitet Christoph bei der Axa in Paris, Danielle ist Bankerin in Zürich – die aufmerksamen Leser werden sich erinnern, ihr schon in der Zürcher Folge dieser Sommerserie begegnet zu sein. Christoph besucht Danielle an den Wochenenden in Zürich oder sie besucht ihn in Paris. Und: Christoph hat ein Gastzimmer. Paris ist extrem teuer, und ich habe vor, sieben Tage in meiner europäischen Lieblingsstadt zu bleiben.

Aber ich komme gegen 14 Uhr an der schönen Gare de Lyon an (gibt es in Paris eigentlich etwas, das nicht schön ist?) und Christoph arbeitet eben und wird erst gegen 19 Uhr an die Place des Ternes nach Hause kommen. Auch wenn ich mit leichtem Gepäck reise, so will ich es doch am Bahnhof für ein paar Stunden in ein Schliessfach sperren. Doch das ist leichter gesagt als getan. Kein Schild weist den Weg, rastlos zerre ich den Koffer mit Rädern hierhin und dorthin, such vorne und vor allem hinten den Bahnhof ab. Das Französisch ist eingerostet, ich erinnere mich nicht mehr, was Schliessfach auf Französisch heisst, nicht Tresor, das ist klar. Endlich entdecke ich einen Bahnhofsplan und natürlich befinden sich die Schliessfächer genau am entgegengesetzten Ende des Bahnhofs.

Als ich dort ankomme, werde ich völlig auseinander genommen, meine ganze Habe muss durch diese Maschine, die alles sieht, sogar der Gürtel muss durch den Metalldetektor. Der Wachmann verlangt sogar, dass ich den Computer nicht nur auspacke, sondern auch starte. Das Schliessfach kostet 7 Euro.

Das im Januar 1977 eröffnete „Centre national d’art et de culture“ des ehemaligen Präsidenten Georges Pompidou.
Das im Januar 1977 eröffnete „Centre national d’art et de culture“ des ehemaligen Präsidenten Georges Pompidou.

Ich sexualisiere Paris in meinem Kopf. Als Teenager sahen wir unseren ersten Pornostreifen hier, "Deep Throat", der das Blasen weltweit ausserordentlich populär gemacht hat. Auch die Pariser Sexshops waren von enormem Interesse, die hatten damals schon Hard Core Pornos, während es im prüden Zürich nur Soft Pornos gab. Es war auch immer gut, die Rue St. Denis herunterzugehen und die ganzen aufgetakelten Huren anzuschauen. Vom klitzekleinen Balkon dieser Zweizimmerwohnung (2000 Euro Monatsmiete) sehe ich nicht nur den Arc de Triumph, ich entdecke auch diese Metallnadeln, die jetzt an allen Pariser Gebäuden angebracht sind und den gehassten Tauben, diesen Ratten der Lüfte, das Landen verunmöglichen. Es gibt immer noch viel zu viele Tauben in Paris, aber sie können jetzt die Fassaden weniger gut verscheissen.Ich liebe es, in Paris immer der Nase nach zu laufen. Wenn ich verloren gehe, dann nehme ich einfach die nächste Metro und fahre an einen bekannten Ort. Zehn Fahrscheine kosten 10.90 Euro, sie gelten auch in den Bussen. Wenn man über einen U-Bahnschacht geht, steigt immer noch dieser eigenartige, metallische Metroduft herauf, den gibt es sonst nirgendwo auf der Welt, und selbst ein Blinder könnte hier durch Schnuppern herausfinden, in welcher Stadt er sich befindet. Die Zeit vergeht im Flug, Paris ist die schönste Stadt der Welt. Doch dann, vom Zeittotschlagen ermattet, rufe ich doch mal Christoph an, der erklärt mir den Zugangscode zum Gebäude und ein Schlüssel zur Wohnung liegt – richtig geraten – unter der Fussmatte.

Hier ruht Victor Noir. Sein Bestes Stück, unverkenntlich aufpoliert.
Hier ruht Victor Noir. Sein Bestes Stück, unverkenntlich aufpoliert.

Als ich an den diversen Bars mit Mädels vorbeigehe, klopfen die Huren mehrmals recht aggressiv an die Scheiben, um auf sich aufmerksam zu machen, und ich bin immer wieder erschreckt zusammengefahren, habe jedes Mal einen Herzinfarkt riskiert. Die haben hier übrigens auch Stundenhotels, aber sie fangen bei 25 Euros an und sind sicher viel schlechter als diejenigen in Pattaya Auch die Rue St. Denis ist so wie vor Jahr und Tag. Die Huren stehen in Massen herum am helllichten Tag, einige in schweren Lederoutfits oder knalligen Röcken, etliche sind uralt, eigentlich zu alt für das älteste Gewerbe der Welt. Ich lehne alle Angebote höflich ab, trinke lieber ein Bier in einer alten Kneipe, wo es sogar noch einen Flipperkasten hat. Früher waren die in Paris überall, heute gibt es sie nur noch ganz selten. Während die Flipperkasten verschwunden sind, sind die Huren geblieben. Sic transit gloria mundi.Ich habe meinen sexuellen Erinnerungsspaziergang an der Place Pigalle begonnen. Hier befindet sich das Moulin Rouge, das sollte auch diejenigen auf die Materie einstimmen, die noch nie in Paris waren oder noch unschuldig sind wie Frischgeborene, also auch noch nie in Pattaya waren. Es ist hier immer noch gleich, da gibt es diverse Peep Shows, wo die Miezen auf der Bühne die Beine breit machen, die grossen Titten schütteln, sich tief durchbeugen und ihre Ärsche den Zuschauern präsentieren. Sie lassen sich berühren, aber wichsen muss der Besucher selber.

Es ist immer noch jammerschade, dass die berühmten Hallen abgerissen und durch diesen schrecklichen Klotz, dieses Centre Pompidou, ersetzt wurden. Ich habe eben gerade "Der Bauch von Paris" von Emile Zola wieder gelesen, ein faszinierendes Buch. Ich habe es an der Jomtien Beach reingezogen. Ja, es gibt sogar in Pattaya ein paar Menschen, die Bücher lesen, es ist nicht grundsätzlich verboten. Noch nicht.

Dann gehe ich mit Ursula und Georges Rothstein aus Pattaya essen. Wunderbar schmeckt das Seafood im Restaurant Procope im Quartier Latin, aber sauteuer, wir lassen pro Person um die 90 Euro liegen, dafür zum ersten Mal Boulots cuites, sagenhafte Meerschnecken, die es so in Pattaya nicht gibt, dort gibt es Hoi. Es ist alles sauteuer in Paris, einmal bezahle ich 20 Euro für ein Bier, dafür ist der Kellner ein Philosoph.

Danielle ist aus Zürich eingeflogen, um Christoph und mich zu besuchen. Ein bewölkter Sonntag in Paris, was gibt es da Besseres zu tun, als Pere Lachaise zu besuchen, den grossen alten Friedhof. Die Metro sollte uns sehr rasch dorthin bringen, aber es gibt einen Zwischenfall. Die Metro hält an einer Station an und ein bewusstloser Passagier wird heraus getragen und auf eine Bank gelegt. Der Fahrer erklärt das Ereignis und fragt, ob zufällig ein Arzt anwesend ist. Es ist keiner da. Es dauert etwa zehn Minuten, bis die Ambulanz eintrifft. Falls das eine Herzattacke war, wie allgemein vermutet wird, war das etwas gar lang. Ein memento mori auf dem Weg zum Pere Lachaise-Friedhof? – Mon Dieu, vielleicht gibt es IHN ja doch, und er hat gerade einen Mitinsassen ausradiert, um uns ein wenig zu erschrecken. Die Metro fährt weiter.

Pattayaner Hansruedi, vor dem Grabstein von Jim Morrison der mit unzähligen Lippenstiftabdrücken bedeckt ist.
Pattayaner Hansruedi, vor dem Grabstein von Jim Morrison der mit unzähligen Lippenstiftabdrücken bedeckt ist.

Und dann gibt es da noch einen anderen Toten: Victor Noir, 1827 – 1849, ein furchtloser Journalist, der von einem Cousin von Napoleon III, ermordet wurde. Die Metallfigur auf seinem Grab lässt keinen Zweifel zu: Dieser Mann war noch ein Mann, er hatte einen Riesenschwanz. Die Damen, die Pere Lachaise besuchen, berühren alle sein Familienglück, das bringt ihnen selber Glück und Fruchtbarkeit. Diese Körperstelle ist durch den starken Gebrauch über die Jahre glänzend geworden, und natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, dort ebenso herzhaft zuzufassen.Danielle und Christoph haben eben erst eine kleine Bühnenproduktion über Madame Lamboukas dite Edith Piaf (1915 – 1963) gesehen. Sie war wahrscheinlich die erste Künstlerin des 20. Jahrhunderts, deren tragisches Leben derart in der Öffentlichkeit stattfand. Als ihr geliebter Boxer starb, trauerte ganz Frankreich und alle dachten, sie würde das Konzert an diesem Abend doch ganz bestimmt ausfallen lassen. Aber sie sagte es nicht ab und sang ihr berühmtes Lied "Mon Dieu" an diesem Abend zum allerersten Mal. In diesem bewegenden Chanson bittet sie Gott zunächst um einen Monat mehr für ihren geliebten Boxer, dann um eine Woche mehr und schliesslich nur um einen Tag usw. Suzy hat dieses Lied in Paris endlich wieder einmal gehört, und es hat sich wie ein Ohrwurm in ihr festgesetzt, sie hat es tagelang gesummt. "Mon Dieu". Unvergesslich wie "Non, rien de rien."Leute besuchen die Gräber von Berühmtheiten gerne, weil sie dabei den "Triumph des Überlebenden" (Elias Canetti) verspüren und Teil des begrabenen Genies werden. Auf Pere Lachaise gibt es enorm viele Berühmtheiten. Wir sind natürlich an den Gräbern von Oscar Wilde, Marcel Proust, Edith Piaf und – ein bisschen weniger - Jim Morrison interessiert. Obwohl eine Karte beim Eingang zeigt, wo die Berühmtheiten liegen, ist es auf Anhieb nicht immer leicht, sie auch zu finden, denn es gibt einfach so viele, und dieser Ort ist garantiert von zahllosen Geistern bevölkert, wie die Thais wohl zu recht fürchten würden. Nach und nach finden wir alle angepeilten Gräber und vergiessen eine Träne oder zwei für diese grossen Künstler, die fast alle ein tragisches Leben hatten. Was uns bleibt, ist deren Kunst.

Am späteren Nachmittag dieses Tages gehe ich an die Gare du Nord, um ein TGV-Billet nach Brüssel zu kaufen. Das nahm – ihr habt Euch nicht verhört – 55 Minuten in Anspruch. Obwohl es in Frankreich bekanntlich eine sehr hohe Arbeitslosigkeit gibt, sind die nicht imstande, ein paar zusätzliche Arbeitskräfte zu engagieren. Die bringen es fertig, ihre Züge mit über 300 Kilometern pro Stunde durch die Gegend zu hetzen, aber es kann 55 Minuten dauern, ein Billet zu erstehen.

TIE, This is Europe.

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