Kerns steiniges erstes Jahr

Foto: epa/Lisi Niesner
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WIEN (dpa) - Manche nannten ihn zum Amtsantritt vor einem Jahr «Alpen-Obama». Christian Kern wirkt smart, elegant, eloquent. Österreichs Kanzler ist ein inszenierungsbewusster Macher und Chef einer Koalition im Dauerstreit.

Tiefer konnten Österreichs Sozialdemokraten kaum fallen: Die SPÖ-Feier zum 1. Mai ging im Pfeifkonzert der Genossen unter, ihr Präsidentschaftskandidat scheiterte im 1. Wahlgang mit 11,3 Prozent, die SPÖ-geführte Koalition bekam katastrophale Noten. Mit dem fälligen Rücktritt von Österreichs Kanzler und SPÖ-Chef Werner Faymann war damals vor einem Jahr der Weg frei für Christian Kern. Dem 51 Jahre alten Bahn-Manager waren schon lange Macht-Ambitionen unterstellt worden. Zum Amtsantritt am 17. Mai 2016 ließ er mit ungehörten Tönen aufhorchen: «Wenn wir dieses Schauspiel weiterliefern, ein Schauspiel der Machtversessenheit und der Zukunftsvergessenheit, dann haben wir nur noch wenige Monate bis zum endgültigen Aufprall.» Kern hat seitdem mit viel Geschick die SPÖ wiederbelebt, aber den Dauerkrach in der rot-schwarzen Regierung nicht unter Kontrolle.

Zermürbt von vielen partei- und koalitionsinternen Streitigkeiten trat kurz vor dem Jahrestag Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner gar von allen seinen Ämtern zurück. Zuvor hatte Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) per Interview dem Kabinettschef «Versagen als Kanzler» ausrichten lassen. «Für Kern ist der Zug abgefahren», legte der für seine Streitlust bekannte konservative Minister noch nach. 78 Prozent der in Zeitungen veröffentlichten Kritik an der SPÖ und am Kanzler stammten in den ersten drei Monaten des Jahres von der ÖVP, fand das Medieninstitut MediaAffairs heraus. Der schwarze Teil der Koalition gleicht nach Einschätzung von Staatssekretärin Muna Duzdar (SPÖ) inzwischen einem «Intrigantenstadl». 18 Monate vor dem regulären Wahltermin sind beide Volksparteien tief im Vorwahlkampf, den Kanzler Kern mit PR-artigen Auftritten unter anderem als Pizzabote selbst befeuert.

Abgesehen von seinem kurzen Ausflug in der Welt des Lieferservices - auf Facebook der gewollte Renner - hat der modebewusste Regierungschef in seinem ersten Jahr vielfach «bella figura» gemacht. Smart, elegant, unverbraucht, visionär und auftrittssicher war der Vater von vier Kindern bejubelter Star bei Start-up-Kongressen wie Parteitagen gleichermaßen. Denkwürdig sein Auftritt im Januar in der Messehalle in Wels, einer Hochburg der rechten FPÖ, als er in einer fast zweistündigen Ruck-Rede seinen «Plan A» für Austria präsentierte: «Machen wir unser Land wieder stark», rief der Ex-Manager den Genossen zu. Seine Botschaften scheinen zu verfangen. Die SPÖ klettert inzwischen auf lange ungekannte Umfragewerte von fast 30 Prozent - und überflügelt damit auch die FPÖ.

Die Rechtspopulisten hat Kern gleich zweifach im Visier: Mit markanten ausländerkritischen Vorstößen - er ist für Kürzungen der Familienbeihilfe für Ausländer - will er einstige SPÖ-Wähler von der FPÖ zurückholen. Obendrein hat Kern grundsätzlich eine Wende im Verhältnis zur FPÖ auf den Weg gebracht. Eine Kommission soll Kriterien für eine etwaige Koalition mit der Partei von Heinz-Christian Strache festlegen. Das jahrzehntelange Berührungsverbot zwischen Roten und Blauen ist passé. Ein Umstand, der die ÖVP, die seit mehr als 30 Jahren ununterbrochen in der Regierung ist, zusätzlich alarmieren muss.

Inhaltlich schreibt sich Kern vor allem die Trendwende bei der Arbeitslosigkeit auf die eigenen Fahnen. Die Negativrekorde auf dem Arbeitsmarkt scheinen vorerst vorbei. Das Land spürt nach Analysen der Wirtschaftsinstitute wieder Rückenwind. So beurteilt die Oesterreichische Nationalbank die Chancen für ein solides Wachstum zur Jahresmitte 2017 inzwischen als «sehr gut». Gestützt wird die Entwicklung durch ein jüngst beschlossenes Beschäftigungsprogramm im Umfang von zwei Milliarden Euro.

In der Tat liefert die Koalition trotz aller Blockaden manche Ergebnisse. «Es gibt einen Arbeitsprozess, der sehr gut funktioniert», sagte Kern im Interview des Privatsenders «Puls 4». Noch Ende Januar hatte er die ÖVP ultimativ zur besseren Zusammenarbeit aufgerufen und damit eine veritable Regierungskrise ausgelöst. Nach wenigen Tagen legten beide Parteien aber ein allseits als bemerkenswert eingestuftes überarbeitetes Regierungsprogramm vor. «Das alles verschwindet hinter dem großen Streit», ärgert sich Kern.

Zur Ordnung rufen kann Kern, der als Kanzler über keine Richtlinienkompetenz verfügt, den Minister nicht. Stattdessen zeigt er ihm die kalte Schulter. «Es ist einfach unerheblich», meint er zu Sobotkas Einwürfen. Intern brodelt es aber: Eine Sitzung des Ministerrats dauerte jüngst nur wenige Minuten.

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