«Ich bin Kettenkauer geworden» - Die Sucht nach dem Zigarettenersatz

Foto: dpa/Patrick Pleul
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BERLIN (dpa) - Drei Mal in der Woche bricht Chris Meyer (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert) mit seiner Gewohnheit. Dann greift er nach dem Frühstück nicht zu seinen Kaugummis, sondern packt die Sporttasche und geht schwimmen. An diesen Tagen merkt er, dass seinem Körper etwas fehlt.

Nach dem Bahnenziehen hat der Entzug ein Ende: Meyer drückt einen Kaugummi aus der Packung und schiebt ihn in den Mund. Der 44-Jährige hat 25 Jahre lang fast durchgehend geraucht. Seit knapp fünf Jahren kaut er Nikotinkaugummis. «An meiner Sucht hat sich überhaupt nichts geändert.»

Mit dem Jahreswechsel kommt die Zeit der guten Vorsätze. Menschen versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören. Einige werden statt zur Zigarette zum Nikotinkaugummi greifen, manche hängenbleiben. Wie viele Menschen betrifft das? Und wie gefährlich ist die Sucht nach den Nikotinkaugummis?

Meyer kaut, wie er geraucht hat: zum Kaffee, beim Telefonieren, nach dem Essen. «Ich bin eigentlich Kettenkauer geworden.» Der Anteil der Raucher in Deutschland geht dem Tabakatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums zufolge zurück. Zigarettenkonsum stellt in den Industrieländern eines der größten Gesundheitsrisiken dar. Viele Menschen steigen deshalb auf Ersatzprodukte um.

Laut Deutscher Hauptstelle für Suchtfragen ist die Erfolgsaussicht entwöhnungswilliger Raucher mithilfe eines Nikotinersatzes eineinhalb bis zweineinhalb mal höher als bei der Behandlung mit einem Placebo. Die Behandlung mit Nikotinkaugummis soll fachlichem Rat zufolge sechs bis zwölf Wochen dauern. Die Kaugummis gibt es in einer Stärke von 2 und 4 Milligramm Nikotin. Mit dem Rauch einer Zigarette geraten 0,5 bis 1,5 Milligramm Nikotin ins Blut.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schreibt, das Risiko, von Nikotinkaugummis abhängig zu werden, werde als eher gering eingeschätzt. Generell hängt die Sucht-Wahrscheinlichkeit damit zusammen, wie schnell das Nikotin im Gehirn freigesetzt wird, wie Anil Batra, Leiter der Sektion Suchtforschung und Suchtmedizin an der Universitätsklinik Tübingen, erklärt.

«Je schneller ein Suchtmittel im Gehirn ankommt, desto höher ist die Suchtpotenz», sagt auch Tobias Rüther, der die Spezialambulanz für Tabakabhängigkeit am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München leitet. Das Pflaster wirkt nach 15 Minuten über mehrere Stunden verteilt, das Nasenspray schnell bei akutem Verlangen. Beim Kaugummi dauert es fünf bis sieben Minuten, bis die Wirkung einsetzt. Die Geschwindigkeit des Zigarettenkicks wird ohnehin von keinem Präparat geschlagen.

Raucher sind körperlich und psychisch abhängig. Nikotinhaltige Ersatzprodukte sollen den körperlichen Entzug hemmen. Beim Kaugummi geht das so: Man kaut sechs, sieben Mal, bis ein pfeffriger Geschmack entsteht. Dann parkt man den Kaugummi in der Backentasche, bis der Geschmack nachlässt. In der ersten Woche tariert der Raucher aus, wie viele Kaugummis er braucht, damit Entzugssymptome wie Reizbarkeit, Nervosität oder Schlafstörungen nicht auftreten, dann wird die Dosis Stück für Stück reduziert.

Experten plädieren für eine fachliche Beratung während des Rauchstopps. Im Fachbuch «Toxikologie» von Hans Marquardt heißt es: «Etwa 80 Prozent der Raucher, die sich entschlossen haben, ohne fremde Hilfe das Rauchen aufzugeben, werden bereits innerhalb eines Monats wieder rückfällig und weniger als 10 Prozent bleiben über ein halbes Jahr hinaus abstinent.»

Die Nebenwirkungen von Nikotinkaugummis sind nach bisherigem Kenntnisstand eher gering. Beim Rauchen ist ohnehin weniger das Nikotin das Gefährliche. Der Tabakrauch enthält mehrere Tausend Substanzen, die beim Inhalieren in den Körper geraten - mindestens 50 sind krebserregend, weitere 50 gelten als chemische Gifte. All das fällt bei den Kaugummis weg. Von einem langfristigen Konsum raten Experten dennoch ab, weil die Folgen kaum erforscht seien.

Laut Packungsbeilage treten bei einem von zehn Konsumenten Kopfschmerzen, Husten, Schluckauf, Übelkeit und Reizungen von Mund oder Hals auf. Tobias Raupach, der die Tabakentwöhnungsambulanz in Göttingen leitet, nennt Aufstoßen und Sodbrennen als Nebenwirkungen, Rüther von der Spezialambulanz in München verweist bei erhöhtem Nikotinkonsum auf Herzschlagerhöhung und Gefäßverengung.

Chris Meyer hat für sich noch keine körperlichen Beeinträchtigungen durch das jahrelange Kaugummikauen ausgemacht. Was er tun könnte, um irgendwann doch noch mit seiner Gewohnheit zu brechen - und nicht rückfällig zu werden? Raupach empfiehlt eine fachliche Beratung. Rüther schlägt vor, immer wieder ein Kaugummi durch ein normales zu ersetzen und den Konsum so zu reduzieren.

Ernsthaft versucht, aufzuhören, hat Meyer noch nicht. Dabei wäre es ihm schon lieber, nicht von dem Nervengift abhängig zu sein. Seinen «Stoff» kauft er immer in den gleichen zwei Apotheken. «Eigentlich warte ich darauf, dass ein Apotheker mal sagt: "Was machen Sie eigentlich, das ist ja Medikamentenmissbrauch."»

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