«Fast hysterische» Verehrung Hitlers

Ortsschild von Braunau am Inn, Geburtsstadt von Adolf Hitler. Foto: epa/Christian Bruna
Ortsschild von Braunau am Inn, Geburtsstadt von Adolf Hitler. Foto: epa/Christian Bruna

WIEN (dpa) - Der «Anschluss» Österreichs war eine wichtige Etappe der Nazis auf dem Weg in den Krieg. Er war leichter, als Hitler gehofft hatte. Das Ausland schwieg und viele Österreicher lebten ihren Judenhass aus.

Am 12. März 1938 überschritt die deutsche Wehrmacht die österreichische Grenze. Diktator Adolf Hitler feierte einen Triumph beim Einzug in sein Geburtsland. Der «Anschluss» war eine wesentliche Etappe in den Kriegsvorbereitungen der Nazis. Die Vorgänge werfen auch ein Licht auf dunkle Kapitel in der Geschichte Österreichs, gerade im Umgang mit den Juden. Nach dem Einmarsch brachen alle Dämme. «Da wurde der jahrhundertelang aufgestaute Hass rausgelassen», sagt der Wiener Historiker Oliver Rathkolb.

Wann fiel der Entschluss zum «Anschluss»?

Im Prinzip ist er in der zweiten Jahreshälfte 1937 gefallen. Hitler war ermutigt durch die Rheinland-Besetzung 1936, die wie ein gemütlicher Ausflug vor sich gegangen ist. Der italienische Faschist Benito Mussolini hat sich zu diesem Zeitpunkt mit Hitler über Österreich verständigt. Der italienische Faschismus als Schutzmacht von Österreichs Kanzler-Diktatur war dahin. Das Land war von innen her durch das Wirken der Nationalsozialisten im Untergrund erodiert. Es war sturmreif. Außerdem waren die deutschen Rüstungspläne sehr konkret.

Welche Bedeutung hatte Österreich im deutschen Kriegsplan?

Die deutsche Führung verfügte schon lange über internes österreichisches Datenmaterial zur Produktion auch kriegswichtiger Güter. Das sieht man auch am Hoßbach-Protokoll, das die Bedeutung von Österreich und der Tschechoslowakei mit ihren Rohstoffen und Industrien hervorhebt. Hitler brauchte die Kapazitäten dieser beiden Länder für einen großen Aggressionskrieg.

War das Ende Österreichs mit dem «Anschluss» geplant?

Nein, nicht unbedingt. Es war zunächst daran gedacht, mit Hitler einen Regierungschef für zwei Länder zu installieren. Dann entwickelte sich unter dem Jubel der Massen aber eine Dynamik, dass man sich spontan am Abend des 12. März sagte, wir lassen das Provisorium.

Der Jubel der Österreicher hat das Ende des eigenen Staats besiegelt?

Es ist nicht mehr Jubel, es ist eine Hysterie, die hier ausgebrochen ist. Die Österreicher wollten lange Zeit nicht nur Deutsche, sondern sogar die besseren Deutschen sein. Die Attraktivität des Nazi-Reichs lag auch in den Wirtschaftsdaten. Dort sanken die Arbeitslosenzahlen, in Österreich herrschte eine Mini-Diktatur, die die Wirtschaft nicht in den Griff bekommen hat.

Wie fielen die internationalen Reaktionen auf den «Anschluss» aus?

Sehr unaufgeregt. Die «Times» hat das mit der Vereinigung von England und Schottland verglichen. Mexiko ist das einzige Land, das formell beim Völkerbund protestiert hat. US-Präsident (Franklin D.) Roosevelt sagte auf einer Pressekonferenz nur: «Kein Kommentar.» Die USA steckten in einer sehr isolationistischen Phase. Und Österreich hatte als autoritäres Regime zuvor keine Allianzpartner gefunden.

Wie war das Verhältnis zwischen Hitler und den Österreichern?

Es ist fast absurd, eine Satire. Viele Österreicher haben Hitler als einen der ihren gesehen. Mit der Heldenplatz-Rede und der ausgerufenen Rückkehr seiner Heimat ins Reich hat er das scheinheilig befeuert. Aber wenn man genauer hinsieht, hat sich Hitler spätestens in den 1920er Jahren völlig losgelöst von Österreich. Für Hitler war sein Geburtsort Braunau Abschaum und Provinz. Linz war mehr der Ort seiner Verwirklichung. Wien hat er abgrundtief gehasst. Es war eine ziemlich einseitige, fast hysterische Liebe seitens der Österreicher. Die Nazis haben ihrerseits oft verachtend auf die Österreicher als das «Mischvolk» herabgesehen.

Aktuell gibt es immer noch die Sehnsucht nach einem starken Mann?

Es ist und bleibt irritierend. Die Österreicher haben viel später als Deutschland aus ihrer Geschichte gelernt. Die Menschen sind viel kritischer gegenüber dem Nationalsozialismus geworden, auch der klassische Antisemitismus ist leicht zurückgegangen. Es bleibt aber diese Sehnsucht nach einem neuen Führer. Das ist kein Hitler, aber es gibt die ständige Sehnsucht nach neuen Autoritäten und eine sehr aggressive Migrations- und Flüchtlingsfeindschaft.

Die Probleme haben sich also verlagert?

Unser Problem ist nicht mehr der Antisemitismus, sondern ist Fremdenfeindlichkeit und der Umgang mit dem Islam. Ein Neubau einer Moschee an prominenter Stelle in Wien würde einen mittleren Bürgerkrieg auslösen.

Wie tief saß der Antisemitismus in Österreich?

Das kommt ganz tief aus der Gesellschaft. Die Nazis haben versucht - sogar mit Androhung der Todesstrafe - die wilden Arisierungen in den Griff zu bekommen. Es war aus ihrer Sicht zwar gut, Juden auszuplündern, aber das Geld muss in die Reichskasse kommen. Alle möglichen Leute haben sich bereichert. Es hat einige Wochen gedauert, bis man diese wilden Horden in den Griff bekommen hat. Das sind nicht nur Nazis, da haben sich Nachbarn, Berufskollegen, Freunde genauso bedient. Ein dunkles Kapitel, über das man auch heute nicht gerne redet. Die wilden Arisierungen haben wirklich Pogrom-Charakter. Da wurde der jahrhundertelang aufgestaute Hass rausgelassen.

Gibt es Lehren aus den Vorgängen von 1938?

Es gilt, eine grundsätzliche Lehre aus der völlig verfehlten Appeasement-Politik der Briten, Franzosen und Amerikaner von 1938 zu ziehen. Wenn es eine aggressive, auf Expansion eingestellte Diktatur gibt, dann muss man sich rüsten oder man wird überrollt. Wir haben völlig zu Unrecht Probleme mit dem Begriff einer «wehrhaften Demokratie». Es ist irritierend, dass wir die Vorstellung haben, der Heilige Geist beschützt die Demokratie.

Zur Person:

Oliver Rathkolb ist einer der profiliertesten Zeithistoriker Österreichs. Er lehrt seit 2005 an der Universität Wien. Rathkolb konzipiert federführend das Haus der Geschichte Österreich, das im Herbst in Wien eröffnet werden soll.

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