Hilfsbereit nur noch bis an die Grenzen - Europa macht dicht

 Migranten warten an Bord eines Schiffes im Hafen von Catania, Sizilien. Foto: epa/Orietta Scardino
Migranten warten an Bord eines Schiffes im Hafen von Catania, Sizilien. Foto: epa/Orietta Scardino

BRÜSSEL/ROM/ATHEN (dpa) - Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise erreicht die EU-Flüchtlingspolitik scheinbar nur einen gemeinsamen Nenner: die Sicherung der Außengrenzen. Für viele wird Europa damit zur Festung.

Nein, in diesem Jahr gibt es keinen Satz von Angela Merkel, der Migranten Hoffnung machen könnte. Ohne laute Kritik der Kanzlerin oder ihrer Bundesregierung hat Italien erst kürzlich mit Hilfe von Libyen die Route über das zentrale Mittelmeer geschlossen. So bleiben Migranten in einem Land gefangen, in dem sie Folter, Zwangsprostitution und Hunger fürchten müssen. Was dazu führt, dass selbst schutzbedürftige Menschen vorerst keine Chance mehr auf Asyl in Europa haben.

Vieles hat sich verändert im Umgang mit der Migrantenkrise. Noch vor zwei Jahren hatte Merkel die in Ungarn festsitzenden Migranten unbürokratisch und ohne große Kontrollen nach Deutschland einreisen lassen. «Wir schaffen das», versprach die CDU-Politikerin ihren Mitbürgern ein paar Tage vor der Grenzöffnung in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015. Ein historischer Moment.

Heute hat der Satz eine neue Bedeutung bekommen. Das Ziel, Europas Außengrenzen abzusichern, ist inzwischen in den Fokus gerückt. Um den Zustrom von Migranten über das Mittelmeer zu stoppen, suchen die EU-Staaten längst die Kooperation mit afrikanischen Ländern. Der Migrationsgipfel in Paris hat diesen Ansatz Anfang der Woche noch einen Schritt weitergetrieben. Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zeigten sich dort grundsätzlich bereit, manchen Schutzbedürftigen aus Afrika einen legalen Weg nach Europa zu ermöglichen - wenn im Gegenzug die illegale Migration gestoppt wird.

Hilfsorganisationen kritisieren vor allem, dass die europäischen Staaten bei dieser Strategie mit dem Bürgerkriegsland Libyen zusammenarbeiten. «Man kooperiert mit Verbrechern. Das muss man klar formulieren», sagt der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt. Die Organisationen Oxfam und ActionAid werfen den EU-Ländern vor, «die EU-Grenzkontrollen nach Libyen auszulagern und damit mehr und mehr Menschen in einer Hölle auf Erden einzusperren».

Dass sich derzeit deutlich weniger Menschen von Libyen aus auf den Weg machen, ist aus Sicht der italienischen Regierung ein entscheidender Wendepunkt. Innenminister Marco Minniti erinnert sich nicht gerne an jene Tage im Juni, als innerhalb von 36 Stunden 12 500 im Mittelmeer gerettete Migranten an italienischen Häfen erstmals europäischen Boden betraten. Die Italiener änderten ihren Kurs in der Migrationspolitik - auch weil sie mit Hilferufen nach mehr Unterstützung bei den EU-Partnern immer wieder abprallten.

Seit August unterstützt die italienische Marine die libysche Küstenwache in einem umstrittenen Einsatz im Kampf gegen den Menschenhandel. Dahinter steht die Hoffnung, die Flüchtlingsströme besser zu kontrollieren - denn werden mehr Boote innerhalb der libyschen Gewässer gestoppt, werden die Geretteten zurück in das Bürgerkriegsland und nicht nach Europa gebracht.

Außerdem hat die Regierung den Druck auf Hilfsorganisationen im Mittelmeer erhöht, deren Rettungseinsätze nach Einschätzung unter anderem von Frontex den Schmugglern in die Hände spielen. Mit einem Verhaltenskodex, dem noch immer nicht alle Organisationen zugestimmt haben, hat Minniti die Seenotrettung auf eine neue Grundlage gestellt. Doch ohnehin fahren mittlerweile nur noch einige wenige Organisationen Rettungseinsätze vor der Küste Libyens. Die privaten Retter berichten von Drohungen durch libysche Küstenwächter.

Und siehe da: Seit einigen Wochen gehen die Ankunftszahlen dramatisch zurück. Im August erreichten nur rund 3.900 Menschen das Land vor den Toren Afrikas. Im Vorjahresmonat waren es mehr als fünfmal so viele. Ist das eine Momentaufnahme - oder ein nachhaltiger Trend?

Die Bilder der 2015 unkontrolliert über die Grenzen strömenden Migranten jedenfalls haben sich tief in das Bewusstsein der Europäer eingebrannt - so auch in Österreich. Mit 90 000 Asylbewerbern zählte der Alpenstaat damals unter Berücksichtigung seiner Einwohnerzahl zu den Ländern in der EU, die am stärksten von der Migrationskrise betroffen waren.

Seitdem kennt die Politik auch in Österreich fast kein wichtigeres Thema mehr als den wirksamen Schutz vor Zuwanderung. Abgesehen von den Grünen ist jede Partei mit ihren Positionen spürbar nach rechts gerückt. Das wird auch im aktuellen Wahlkampf deutlich. Die hohe Zustimmung für Außenminister und ÖVP-Chef Sebastian Kurz erklärt sich hauptsächlich durch sein Image des Wegbereiters für die Schließung der Balkan-Route. Dass sich die Zahl der Migranten und Asylanträge im Vergleich zu 2015 halbiert hat, spielt in der öffentlichen Debatte eine weniger wichtige Rolle.

In Griechenland ist die Lage im Vergleich dazu relativ entspannt - aber dennoch herrscht in Athen die Sorge, ob das Nachbarland Türkei den Flüchtlingspakt mit der EU einhalten wird. Erst in den vergangenen Wochen war die Zahl der Neuankünfte überraschend in die Höhe geschnellt. Kamen in den vergangenen Monaten durchschnittlich 50 Menschen pro Tag an, erreichen nun plötzlich täglich bis zu 400 neue Flüchtlinge die Inseln in der östlichen Ägäis.

Aus Athener Regierungskreisen ist der Verdacht zu hören, dass Ankara die Steuerung des Migrantenzustroms bewusst nutze, um Druck auf die EU und Berlin auszuüben. Merkel hatte zuletzt nämlich deutlich gemacht, dass sie Verhandlungen über einen vom türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan gewünschten Ausbau der Zollunion mit der EU in nächster Zeit nicht zustimmen wird.

In der Türkei sind laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR derzeit rund drei Millionen syrische Flüchtlinge registriert. Hinzu kommen Geflüchtete aus dem Irak und Afghanistan. Human Rights Watch beklagt, dass Hunderttausende syrische Kinder noch immer keine Schule besuchten. Die Menschenrechtsorganisation übt auch Kritik daran, dass die Grenze zwischen der Türkei und Syrien nach wie vor geschlossen ist und nur Verletzte passieren dürfen, um sich in der Türkei behandeln zu lassen.

Immerhin ist die Grenze nicht völlig dicht. Anders in Ungarn, wo Ministerpräsident Viktor Orban an den Grenzen zu Serbien und Kroatien einen Zaun errichten ließ und damit die Migrantenwanderungen auf der sogenannten Balkanroute in andere Länder der Region umlenkte. Die Rechnung dafür schickte Orban diese Woche nach Brüssel. In einem Brief an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fordert er eine Zahlung von 400 Millionen Euro für seinen Einsatz in Sachen Grenzschutz - mit dem Verweis auf europäische Solidarität.

In EU-Kreisen wird das Schreiben als Indiz dafür gewertet, dass Orban am Mittwoch eine schwere Schlappe erwartet: Dann wird der Europäische Gerichtshof nämlich verkünden, ob Ungarn und die Slowakei sich zu Recht gegen einen EU-Beschluss wehren, der sie bei der Umverteilung von Migranten aus Italien und Griechenland in die Pflicht nimmt. Orban und sein slowakischer Amtskollege Robert Fico wollen diese EU-Mehrheitsentscheidung nicht akzeptieren. Die EU könne niemanden vorschreiben, wie Solidarität aussehen müsse, lautet ihr Argument.

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