Habgier ist tödlich

In alter Zeit gab es einmal einen Grossvater und eine Grossmutter. Sie waren Mann und Frau. Die beiden hatten zusammen gelebt und gespeist seit ihren Jugendtagen bis in ihr jetziges hohes Alter. Kinder waren ihnen versagt geblieben. Täglich standen sie in aller Frühe auf, gingen aufs Feld oder in ihren Gemüsegarten, manchmal auch in den Wald, um Kräuter und Wurzeln zu sammeln für den eigenen Verzehr oder zum Tausch gegen andre Nahrungsmittel. Das war ihre Beschäftigung seit jeher.

Die beiden liebten einander, assen gemeinsam ihre Speise und blieben von Armut verschont. So vergingen im Gleichmass ihre Tage.

Einmal geschah es, dass sie ein Stück Land gegen ein anderes eintauschten. Der neue Acker lag in der Nähe des Flusses, was ihnen die Bewässerung erleichterte. Wenn sie ihre Pflanzen täglich giessen würden, dann würden sie es ihnen danken, indem sie schnell wüchsen und reichlich Frucht ansetzten, so dachten sie.

Die beiden Alten begannen, ihr neues Land fruchtbar zu machen. Sie jäteten das Unkraut und gruben das Erdreich um. Dabei stiess ihre Hacke gegen etwas Hartes. Verwundert gruben sie nach und entdeckten einen uralten tönernen Wasserkrug, mit seinem Deckel säuberlich verschlossen. Sie legten ihn ringsum frei und hoben ihn in gemeinsamer Anstrengung heraus. Sie öffneten den Deckel. Das bauchige Gefäss war randvoll mit Goldstücken und Silberbarren gefüllt. Der Grossvater und die Grossmutter stiessen einen Seufzer der Überraschung und Erleichterung aus. Der Grossvater sagte:

"Hey, unsere Tugend beschert uns solche Seligkeit. Wir sind reich, oh Grossmutter, hey!”

Seine Frau antwortete:

"Unsere Tugend hat uns geholfen. Sie bringt uns Glück.”

Mit zitternden Händen legte der Grossvater Goldstücke und Silberbarren in seine Tragetasche. Dabei murmelte er:

"Meine Verhältnisse haben sich zum Besseren gewendet. Jetzt kann ich zwei oder drei jugendliche Nebenfrauen ins Haus nehmen!”

Die Grossmutter hörte es und wurde zornig. Was muss das für ein Mann sein, dachte sie, der, reich geworden, seine Partnerin vergisst, die mit ihm durch dick und dünn gegangen? In ihrer Wut stiess sie einen Fluch aus. Sie rief:

"Wenn du dir ein paar junge Frauchen suchst, wirst du mit ansehen müssen, dass ich mir einen Freund nehme, halb noch Knabe und halb schon Mann. Dann wirst du begreifen, dass auch ich noch ein Herz in der Brust trage, das jung geblieben.”

So sprachen die beiden alten Leute, und die unmissverständlichen Worte bewirkten, dass das Vertrauen, das zwischen ihnen geherrscht, zerbrach. Zweifel, Verdacht und Misstrauen machten sich breit in ihren Herzen. Sie überlegten, wie einer dem andren seinen Anteil an dem Schatz streitig machen könnte, damit er das ganze Gold, das ganze Silber allein zu geniessen vermochte.

Während der Grossvater weiter die Goldstücke und Silberbarren in seiner Tragetasche stapelte, sprach die Grossmutter zu ihm so:

"Halte du hier bei unserem Schatz Wache! Inzwischen werde ich dir noch eine zweite Schultertasche holen. Dann bringe ich dir auch gleich zu essen mit!”

Mit diesen Worten entfernte sich die alte Frau, so schnell sie ihre Beine tragen konnten, um die Tasche und die Mahlzeit für ihren Mann herbeizuschaffen.

Während die Grossmutter fort war, hatte der Grossvater nur einen einzigen Gedanken. Seine Habgier bewirkte, dass er an nichts andres mehr denken konnte als daran, wie er sich des gesamten Schatzes bemächtigen könnte. Er sah keine andre Möglichkeit, als die Alte zu erschlagen, wenn sie mit der Tasche und den Speisen von zu Hause zurückkommen würde. Er versteckte sich hinter dem Stamm eines riesigen Baumes am Wege und wartete.

Inzwischen war die Grossmutter mit der Zubereitung der Speisen für ihren Mann fertig geworden. Sie nahm eine Schultertasche und kehrte zum Fluss zurück. In der Freude über den Schatz, der ihr bald ganz gehören würde, eilte sie dahin, mal in schleunigem Laufschritt, mal in hastiger Gangart, und schon war sie bei jenem Baume kurz vor ihrem Ziel angekommen, wo der Grossvater auf sie lauerte. Er trat ihr plötzlich in den Weg, erhob seine Hacke und schmetterte sie seiner Frau mit voller Wucht auf den Kopf. Mit gespaltenem Schädel brach sie zusammen. Der Tod hatte sie ereilt.

Der Grossvater zog ihren Leichnam fort und verscharrte ihn am Wege. Die Umhängetasche mit den Speisen nahm er auf und setzte sich vergnügt ins Gras, um zu essen, denn er hatte Hunger. Er knurrte:

"Wenn wir Menschen unserem Glück begegnen, so wäre es keine ungetrübte Freude, wenn wir es mit jemandem anderen teilen müssten! Glücklich werden kann man nur allein! Wenn ein andrer da ist, der Ansprüche geltend macht, ist es kein wahres Glück mehr!”

Sobald der Alte sein Mahl verschlungen hatte, legte er den Rest des Silbers und Goldes in die leere Tragetasche, nahm dann seine doppelte Last auf und trat seelenruhig den Heimweg an. Doch weit kam er nicht. Sein Blick verschleierte sich, dunkel wurde es ihm vor Augen, ohnmächtig sank er hin; wenige Augenblicke später war er tot.

In seine Speise hatte die Grossmutter nämlich Gift gemischt. Dieses Gift war ihm in die Glieder gefahren, das Ergebnis liess nicht lange auf sich warten.

Die beiden alten Leute waren ihr ganzes Leben glücklich gewesen. Wenn nichts dazwischen gekommen wäre, hätten sie zufrieden leben können bis an das Ende ihrer Tage. Aber sobald uns Menschen die Habgier packt, vergessen wir alles um uns her, vergessen wir alle alten Beziehungen und bewährten Verbindungen, die wir mit andren geknüpft. Das lehrt uns diese Geschichte.

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