Goldschürfen in der Kloake

Foto: dpa/Jm López
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CARACAS (dpa) - Mit nackten Füßen steht Augusto Rengil mitten im Rio Guaire, dem offenen Haupt-Abwasserkanal von Venezuelas Hauptstadt Caracas.

Eine dumpfig-braune Suppe umspült seine Waden, während er mit Hilfe eines alten Jutesacks versucht, wertvolle Gegenstände aus dem Schlamm zu fischen. Der 21-Jährige ist einer von unzähligen sogenannten Goldschürfern, die in der stinkenden Kloake Tag für Tag ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie suchen nach Gold, Silber oder irgendwelchen anderen Metallen, die sich zu Geld machen lassen.

Venezuela, das Land mit den größten Ölreserven, ist gebeutelt von einer dramatischen Versorgungskrise und der höchsten Inflation der Welt. Die USA und die EU werfen dem sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro vor, mit der Entmachtung des von der Opposition dominierten Parlaments eine Diktatur errichtet zu haben. Das Land steht am Rande der Pleite, Hunderttausende sind geflüchtet. Gerade die Ärmsten trifft es hart, auch die Kindersterblichkeit ist stark gestiegen.

Aber es gibt auch die Reichen, von denen viele abgeschottet in wohlhabenden Vierteln auf das Ende des Sozialismusexperiments hoffen. «Es ist überraschend, wie viel Schmuck durch die Abflüsse der Häuser in den Kanal gelangt», sagt Rengil. Seit vier Jahren schon kommt der Vater eines kleinen Sohnes zum Rio Guaire. «Für ein Gramm Gold werden 180.000 Bolivars gezahlt (Schwarzmarktkurs: vier Euro), das haben wir nach fünf bis sechs Stunden Arbeit zusammen.» Um die kleinen Ringe, Ohrstecker oder Kettenanhänger zu finden, stochern die Männer mit einem Messer oder den bloßen Händen in Haufen aus Schlamm, Fäkalien und Müll herum. Meist sind sie zu viert oder fünft, die Ausbeute wird geteilt. Willkommen ist jeder, der arbeiten möchte.

Auch Vladimir Pérez und seine Familie leben von den metallenen Fängen aus dem Rio Guaire. Nach sieben Jahren möchte der 25-Jährige aber weg aus der Kloake. «Der Geruch ist unerträglich, man wird ihn nie los.» Außerdem ist der Job nicht ungefährlich: Die Goldschürfer leiden oft unter Hautkrankheiten und Brechdurchfall. Zur Regenzeit ist die Arbeit wegen der Fluten und starker Strömungen lebensbedrohlich.

Angesichts der schweren Wirtschaftskrise in Venezuela bleibt vielen Männern aber nichts anderes, als sich diesen Risiken auszusetzen. Mangels Devisen, um Lebensmittel im Ausland einzukaufen, sind die Regale in den Supermärkten meist leer, Medikamente kommen kaum noch ins Land. Der Mindestlohn in dem inflationsgeplagten Land liegt seit November bei 177.000 Bolivars im Monat, was ungefähr dem Wert von einem Gramm Gold aus der Kloake entspricht. So bringt das Goldsuchen mehr als ein normaler Job. Doch der gesundheitliche Preis ist hoch.

Einige Krankenhäuser haben noch fünf Prozent der benötigten Medikamente. Angehörige versuchen händeringend, auf dem Schwarzmarkt Sauerstoff und Infusionen zu kaufen. Komitees der Sozialisten (Clap) verteilen Medizin und Essen. Die Idee war, alle Einwohner mit Reis, Maismehl und Öl zu versorgen - auch, um Plünderungen und einen großen Schwarzmarkt zu verhindern. Im Alltag scheint das System aber nicht zu funktionieren: Den Sozialisten wird vorgeworfen, korrupt zu sein und die Nahrungsmittel vor allem in ihren Hochburgen zu verteilen. Wer auf der Straße lebt und keine Adresse hat, geht sowieso leer aus.

«Im Müll findet sich alles, der Müll gibt alles», sagt ein junger Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. Tagtäglich sucht er sich sein Essen aus dem zusammen, was andere Leute wegwerfen. An einer Straßenecke durchwühlt Adriana eine verdreckte Plastiktüte, während ein Freund ihre anderthalbjährige Tochter auf dem Arm trägt. Die Haut des kleinen Mädchens ist mit Krusten bedeckt - ein Zeichen für schlechte Ernährung und mangelhafte Hygiene. Ob das Essen noch genießbar sei, erkenne er am Geruch und an der Farbe, sagt der Mann.

Immer mehr Menschen leben in Caracas auf der Straße. So wie der 23 Jahre alte Goldschürfer mit dem Spitznamen «El Blanquito». «Ich bin gegangen, weil ich keine Last für meine Familie sein wollte», sagt er. Vor drei Jahren sei die Situation eine andere gewesen: «Es gab mehr Arbeit, die Gehälter waren gut.»

Schwer zugesetzt hat Venezuela der Verfall des Ölpreises seit 2014. Hinzu kommt, dass das Land zwar gewaltige Ölreserven hat, aber zu wenige funktionstüchtige Raffinerien. Die fehlenden Einnahmen aus dem Ölgeschäft machen es der sozialistischen Regierung unmöglich, ihre Subventionen und Preiskontrollen zu finanzieren. Maßnahmen von Präsident Maduro wie die Anhebung des Mindestlohns sind daher nur symbolisch - die Inflation hat sich zuletzt rasant beschleunigt.

So steht Venezuela am Rande des Ruins und Caracas ist eine der der gefährlichsten Städte der Welt geworden. Und obwohl die Goldsucher am Rio Guaire in der Regel friedlich nebeneinander arbeiten, enden Auseinandersetzungen an dem Kanal auch tödlich. El Blanquito sei heute nicht gekommen, erzählt sein Kollege Germán und zeigt auf eine Blutspur am Ufer. «Es scheint, als ob hier gestern ein Mann erstochen wurde», sagt er. «Vielleicht sucht die Polizei nach ihm.»

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