Familienbande

Familienbande

Das Wort Familienbande klingt gefährlich, irgendwie nach Mafia oder organisierter Kriminalität. Ganz anders das Wort Familien-Clan, das lässt auf Zusammenhalt schließen, auf gegenseitige Hilfe und uneingeschränkte Solidarität – selbst wenn ihr ein gewisser Hautgout anhängt, weil Verfehlungen einzelner Mitglieder von allen verteidigt werden.

Letzteres erinnert auch zunächst an thailändische Familien, die ihren Traditionen folgen, füreinander einstehen und oft mit mehreren Generationen zusammenleben. Aber wie bei allen Klischees, gilt auch das nur bei oberflächlicher Betrachtung. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man schnell – wie beim Lächeln – dass hinter dieser Maske eine andere Wahrheit verborgen ist: Da werden Kinder verkauft, versklavt oder missbraucht, da werden junge Menschen mit dem Wissen, Willen und Einverständnis der Eltern in die Touristenzentren geschickt, um sich dort zu prostituieren und Geld nach Hause zu schicken. Kinder waren immer schon in Thailand die Altersversorgung der Eltern, aber der neue Geschäftszweig ist in diesem Ausmaß erst vor wenigen Jahrzehnten entstanden und hat sich zu einer der wichtigsten Einnahmequellen – zumindest für den Isaan – entwickelt.

Wenn es der Tochter gelungen ist, einen Farang zu angeln, dann hat der eine junge Frau, die all seine heimlichen Wünsche erfüllt. Gleichzeitig hat er aber auch eine Familie, die von ihm versorgt werden will. Bei den jungen Söhnen ist es nicht viel anders, auch sie schicken Geld nach Hause, aber erst, wenn sie sich mit allen technischen Spielsachen, vom Fernseher übers Handy, vom iPhone übers iPad, Smartphone etc. versorgt haben. Wo fangen die Familienbande an, und wo hören sie auf?

In Deutschland sagt man: „Blut ist dicker als Buttermilch“ und meint damit den familiären Zusammenhang. Aber die vielen Erbschaftsprozesse, von denen man immer wieder hört, sprechen dagegen. Die globale Individualität ist im Vormarsch. Selbst in China macht sie sich bemerkbar. In Europa und den USA lebt heute schon die Mehrheit der Menschen als Singles. Familien lösen sich auf, die Eltern in Hamburg, der Sohn mit Familie in London, die Tochter in Florida. Endstation: Altersheim. Individualität?

Auch die Großfamilie in Thailand ist dabei, sich aufzulösen. Die Vereinzelung der Menschen, die Tatsache, dass jeder nur noch für sich selbst zuständig ist, hat weltweit zur Veränderung der Familienverhältnisse geführt. Ebenso in Thailand, wo viele Kinder nur noch einmal im Jahr – zum Songkran-Fest – ihre Familie besuchen. Die europäisch geprägte Individualität breitet sich unaufhaltbar auch hier aus. Familie war gestern, heute gilt die Ich-AG. Wie sich die Altersversorgung hierzulande für die jetzige Generation einmal gestalten wird, ist mir rätselhaft. Wenn es weder Familienbande noch -Clans gibt (was ich nicht hoffe), noch eine allgemeine Rente, die wirklich funktioniert - was voraussetzt, dass die Arbeitgeber ihre Angestellten überhaupt anmelden - dann liegt die Lösung vielleicht in den Worten eines über 2000 Jahre alten chinesischen Philosophen namens Kuan Chung Tzu (365 bis 290 vor Christus), den ich abschließend zitiere:

„Willst du im laufenden Jahr enttäuscht werden, säe Samenkörner. Willst du in sieben Jahren enttäuscht werden, heirate. Willst du den Rest deines Lebens enttäuscht werden, zeuge Kinder.“

Die weltweit zunehmende Zahl von Singles scheint darauf zu verweisen, dass sie sich mit dieser Philosophie auskennen.

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