Fall Lena: Debatte über Umgang im Netz

Foto: epa/Ingo Wagner
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EMDEN (dpa) - In Sichtweite der Polizeistation im ostfriesischen Emden liegt das Parkhaus, das vor fünf Jahren Schauplatz eines grausamen Verbrechens wird. Der 24. März 2012 ist ein sonniger Frühlingstag zu Beginn der Osterferien, als die elfjährige Lena im Park Enten füttern will. Doch ein junger Mann lockt sie in das Parkhaus. Im toten Winkel der Überwachungskameras sticht er mit einem Messer auf das Mädchen ein und erwürgt es. Die Stadt ist gelähmt vor Entsetzen, als die Leiche gefunden wird. Dann macht sich Wut breit.

Lynch-Aufrufe im Internet gegen einen Unschuldigen und Ermittlungspannen der Polizei sorgen für bundesweite Schlagzeilen. Erst gerät ein 17-Jähriger unter falschen Verdacht. Er wird in Handschellen abgeführt, Videos davon kursieren im Internet. Nach virtuellen Lynch-Aufrufen belagert ein Mob die Polizeiwache und fordert die Herausgabe des Unschuldigen: «Lass uns das Schwein tothauen», postet jemand im sozialen Netzwerk Facebook. «Gefällt mir», posten viele Leser im Netz. Rechtsextremisten nutzen die aufgeheizte Stimmung, um für die Todesstrafe zu werben.

Erleichterung kommt erst auf, als nach vier Tagen ein Foto und DNA-Spuren aus dem Parkhaus zu einem 18-Jährigen führen. Er gesteht den Mord und wird am 7. November 2012 vom Landgericht Aurich wegen Mordes, versuchten sexuellen Missbrauchs und gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen.

Das Gericht hält den jungen Mann wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung für eingeschränkt schuldfähig und schickt ihn für unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Klinik. Der Mann sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, sagt Richter Werner Brederlow im Urteil nach dem nicht öffentlich geführten Prozess: «Er hat seine Opfer wahllos ausgesucht.»

Denn Lena ist nicht das erste Ziel des Gewalttäters. Er versuchte bereits, eine Joggerin zu vergewaltigen und wurde zuvor wegen seiner pädophilen Neigung in einer Jugendpsychiatrie behandelt. Trotz einer Selbstanzeige bleiben frühe Ermittlungen der Polizei in der Bürokratie stecken. Die Frage, ob der Mord zu verhindern gewesen wäre, bleibt bis heute offen.

Bis heute dauert auch die Debatte über die Rolle von sozialen Netzwerken an. Fälle von falschen Verdächtigungen, Cyber-Mobbing, Fake News und Verrohung im digitalen Umgang nehmen zu und beschäftigen Medien, Politik und Forschung. «Jeder zweite Schüler in Niedersachsen ist im vergangenen Schulhalbjahr mindestens einmal im Internet gemobbt worden», sagt Marie Christine Bergmann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) zu einer 2016 erschienenen Studie.

99 posen, der 100. ermordet jemanden, warnt der Internet-Blogger Sascha Lobo auf «Spiegel Online» nach dem Geständnis des 19-jährigen Marcel H.. Dieser posiert nach der Tötung eines Kindes neben der Leiche für ein Selfie. Lobo plädiert angesichts der Verrohung des Netzes für eine «Digitalausgabe der Zivilisierung».

Ob und welche Einträge Facebook löschen soll, ist umstritten. Das dürfe nicht eine intransparente Entscheidung anonymer Manager bleiben, fordert Andreas Fischer von der Niedersächsischen Landesmedienanstalt: Konkrete Löschkriterien seien angesichts der Meinungsmacht von Facebook nicht nur Sache eines privaten Unternehmens.

Wie gut aber ein «Netzwerkdurchsetzungsgesetz» vor Hate Speech und Fake News schützen kann, ist unklar. Eine staatliche Regulierung sozialer Netzwerke mit harter Hand sieht der Düsseldorfer Strafrechtler Udo Vetter problematisch: «Ein freier, liberaler Rechtsstaat bekommt Schwierigkeiten, wenn er so vorgeht wie autokratische Staaten.» Die Gefahr liege darin, Freiheitsrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken, befürchtet auch die Journalistenvereinigung «Reporter ohne Grenzen».

«Wer sollte das alles erfassen, wenn die Volksseele hochkocht und grenzwertige Formulierungen bis zum Lynch-Aufruf durchs Netz schwappen?», fragt der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger im Rückblick auf den Fall Lena: «Wir werden mit dem Problem noch lange leben müssen.»

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