EU-Bürger in London sehen dem Brexit entgegen

Foto: epa/Christian Bruna
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LONDON (dpa) - Küchenhilfe, Jurist oder Selbstständige - für EU-Ausländer in Großbritannien könnte sich durch den Brexit einiges ändern. Die einen blicken sorgenvoll nach Brüssel, denn dort beginnen die EU-Austrittsverhandlungen. Andere sehen das alles gelassen.

Ademan Dias blickt sorgenvoll auf das Parlament in Londons Regierungsviertel Westminster. Der Portugiese arbeitet als Küchenhilfe in einer Sandwich-Bar wenige Schritte von den Regierungsgebäuden entfernt. «Es ist schon ein komisches Gefühl, dass direkt um die Ecke über meine Zukunft entschieden wird», sagt Dias. Vor 25 Jahren kam er als junger Mann von der kleinen Hafenstadt Aveiro nach London. Seine beiden Schwestern lebten schon in der britischen Hauptstadt. «Zuerst habe ich hier nur Urlaub gemacht. Aber es hat mir so gut gefallen, dass ich hergezogen bin», erzählt er.

Bald könnte sich Dias' Schicksal wenden. Am 19. Juni starten die Brexit-Verhandlungen zwischen Brüssel und London. «Der Brexit macht mir keine Angst, ich habe Verwandte in ganz Europa und kann mich auf Französisch, Spanisch und Italienisch verständigen», sagt er. Im Vereinigten Königreich möchte der Familienvater trotzdem bleiben. «Mit meinem einjährigen Sohn spreche ich Englisch, damit er sich später gut integrieren kann.» Dias hätte die britische Staatsbürgerschaft längst beantragen können. Er lebt lange genug im Land. «Aber der Antrag kostet Geld und bislang brauchte ich ja keinen britischen Pass.». Das könnte sich ändern.

Eine Friseurin, die seit drei Jahren in London lebt, meint: «Die Atmosphäre hat sich nach dem Brexit-Referendum geändert.» Als sie kürzlich in der Öffentlichkeit mit ihrer Mutter in Italien telefonierte, habe eine Britin sie beschimpft, dass sich so etwas in England nicht gehöre. «Das ist mir noch nie passiert», berichtet die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte. Als ihre spanische Nachbarin mit einem britischen Handwerker einen Termin vereinbaren wollte, habe dieser gesagt: Er müsse wohl keine Rücksicht auf die Uhrzeit nehmen, da sie vermutlich ohnehin nicht arbeite, sondern nur viele Kinder habe. «Ich fühle mich hier nicht mehr wohl», sagt die Friseurin. Sie wolle irgendwann in ein anderes Land ziehen.

Besorgt ist Carla Ferrero, die ebenfalls aus Italien kommt. «Wenn ich ein Visum brauchen sollte, würde ich das Vereinigte Königreich verlassen.» Im letzten Jahr hat sich die 30-Jährige als Karriereberaterin für Studierende selbstständig gemacht. Bevor sie vor zwei Jahren nach London zog, lebte sie in China. «Man fühlt sich nicht wirklich dazugehörig, wenn man von einem Visum abhängig ist», sagt sie. «Aber in Großbritannien scheint nun alles genauso kompliziert zu werden.» Für ihr Geschäft könnte der Brexit herbe Folgen haben: Wenn Studierende aus EU-Ländern in Großbritannien bald hohe Studiengebühren zahlen müssten, würden deutlich weniger herziehen. Damit könnte für Ferrero ein großer Markt wegbrechen.

Richtig wütend über den Brexit ist Emily Kristensen aus Dänemark: «Ich finde es unfair, dass die älteren Briten den jungen Leuten ihre Chance auf Freizügigkeit nehmen, nur weil sie Angst vor Einwanderung haben», sagt sie. Die 23-Jährige zog vor etwa eineinhalb Jahren aus dem 8.000-Einwohner-Städtchen Ribe nach London. «Ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren», erzählt Kristensen. Sie arbeitet als Verkäuferin in der Filiale einer dänischen Einzelhandelskette im Stadtzentrum. Mit den konkreten Folgen des Brexits beschäftigt sie sich noch nicht: «Ich arbeite und lebe einfach weiter.»

Die Folgen des Brexits versteht Oliver Rieche nur zu gut: Er studierte Jura an der angesehen Universität Cambridge. Seit zwei Jahren wohnt der junge Mann aus dem rheinischen Bad Honnef in London. Momentan ist er auf Jobsuche. «Ich hoffe, dass Arbeitgeber EU-Bürgern gegenüber zukünftig nicht negativ eingestellt sein werden, aus Angst, dass sie uns eventuell ein Visum sponsern müssen», sagt Rieche. Sollte es mit seiner Karriere wegen des Brexits nicht vorangehen, würde er seine Wahlheimat verlassen. Aber auch, wenn sich für EU-Bürger in Großbritannien nichts ändern sollte, hofft Rieche, dass die Freizügigkeit erhalten bleibt: «Es wäre furchtbar, wenn meine Freunde und Familie bald ein Visum brauchen, um mich zu besuchen.»

«Die ständige Unsicherheit macht mich wirklich nervös», erzählt Said Kenj. Der 22-Jährige ging nach dem Abitur in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) für sein BWL-Studium nach London. Daneben gründete er ein Start-up-Unternehmen, das zweisprachige Studierende an Firmen in EU-Staaten vermittelt. «Sollten wir durch den Brexit mehr Steuern für Gewinne im Ausland zahlen müssen, wäre das ein echtes Problem.» Auch er würde Großbritannien verlassen, falls er wegen des Brexits keinen attraktiven Job mehr finden sollte. «Doch als Deutschsprechender hat man momentan grundsätzlich gute Chancen auf dem Jobmarkt», sagt Kenj trotz allem optimistisch.

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Leserkommentare

Vom 11. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.

Jürgen Franke 20.06.17 10:43
Dieses Abstimmungsergebnis der Briten hat
dramatische Folgen für ganz Europa Es ist schon unglaublich, was eine ältere und uninformierte Bevölkerung, den Flüchtlingsstrom vor Augen, für einen Schaden angerichtet hat, nur weil die Jugend, de es eigentlich betrifft, nicht zur Wahl gegangen ist. Die Verhandlungstermine liegen fest und sind unumstößlich. Das Ergebnis muß anschließend noch von allen 27 EU Mitgliedern parlamentarisch abgesegnet werden.