Die deutsche Kuhflüsterin

Foto: dpa/ Karen Bauer
Foto: dpa/ Karen Bauer

RADHA KUND/BERLIN (dpa) - An ihr erstes Kälbchen kann sich Friederike Brüning noch ganz genau erinnern. Surabhi hieß es, und es war nicht nur niedlich, sondern auch klug - Brüning war vom ersten Tag an verliebt in das Tier. Heute, etwa 20 Jahre später, tapsen 1.200 Kühe und Kälber über ihren Hof im nordindischen Radha Kund, etwa 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Neu Delhi.

Manche hüpfen auf drei Beinen, andere haben nur ein Ohr oder tragen große Wundverbände. Seit zwölf Jahren betreibt Brüning ihre eigene Auffangstation (Goshala) für kranke und verletzte Kühe. «Surabhi Goshala» heißt ihr Hof - in Erinnerung an das erste Kalb.

Friederike Brüning ist Deutsche - 1959 in Berlin geboren, wuchs sie im Raum Frankfurt/Main auf. Nach dem Abitur reiste sie nach Indien. Sie wollte die Welt sehen, suchte spirituellen Input und fand Antworten bei einem Guru in Radha Kund, einer Kleinstadt auf dem Land. Hier soll der Gott Krishna vor etwa 5.000 Jahren als Mensch geboren worden sein, seine Anhänger tummeln sich in der Gegend.

Der Guru gab Brüning den indischen Namen Sudevi und lehrte sie, Krishna zu verehren. Brüning lernte Hindi, studierte philosophische Schriften, sang Mantras, übte sich im Gebet. Mit 30 legte Brüning ein Mönchsgelübde ab und ließ sich die Haare abschneiden. Sie widmete ihr Leben ganz der Spiritualität in der Nachfolge Krishnas.

Der soll Kuhhirte gewesen sein - heute tritt Brüning gewissermaßen in seine Fußstapfen. Ihr Goshala, die Auffangstation für Kühe, ist etwa so groß wie zwei Fußballfelder. 60 Mitarbeiter kümmern sich täglich um die Tiere, füttern sie und versorgen sie mit Medikamenten.

Kühe gelten im Hinduismus als heilig. Sie dürfen nicht geschlachtet werden, sondern werden verehrt. Die Milch gilt nicht nur als nahrhaft, sondern auch als spirituell reinigend. Kuh-Urin wird zu Medizin verarbeitet, und der Dung soll eine reinigende Wirkung haben. Seit die hindu-nationalistische Partei BJP Indien regiert, ist die Kuh regelrecht zum politischen Symbol geworden: Selbsternannte Kuhschützer greifen Menschen an, die im Verdacht stehen, Kühe zu schlachten, ihr Fleisch zu essen oder Rindsleder herzustellen - manchmal prügeln sie sie auch zu Tode.

Gleichzeitig wird das Futter teurer, und ärmere Leute können es sich nicht leisten, eine Kuh zu halten, die keine Milch gibt. «Viele haben nur die Wahl: Füttere ich die Kuh oder meine eigenen Kinder», sagt Friederike Brüning.

Deshalb werden Kälber und alte Kühe ausgesetzt. Auf der Straße erwartet sie ein langsamer, qualvoller Tod: Straßenhunde jagen die Kälber, Kühe werden von Autos angefahren, Krähen picken in ihre Wunden. Brüning konnte das irgendwann nicht mehr ansehen. Nach und nach wuchs ihre Herde, schließlich mietete sie den Hof und gründete ihren eigenen Goshala. Täglich rufen inzwischen Menschen an, melden ausgesetzte Kühe oder bringen die Tiere selbst vorbei.

Die Kühe sind nach Größe sortiert in verschiedenen Ställen. Es ist erstaunlich ruhig, nur die Ventilatoren surren. Die Hitze macht wohl auch die Kühe träge. Dunkelbraune Zebu-Rinder mit Buckel und geschwungenen Hörnern, hellbraune Ghir-Kühe mit Schlappohren - Brüning kennt ihre Tiere genau.

Eine braune Kuh, die in einem Stall liegt, wurde angefahren und kann wegen eines gebrochenen Rückens nicht aufstehen - die Mitarbeiter wenden sie zweimal täglich, damit sie sich nicht wundliegt. Mit manchen Tieren, die hier geboren sind oder als Kälbchen herkamen, verbindet Brüning eine Art Freundschaft. Im Vorbeigehen klopft sie hier auf ein knochiges Kuhhinterteil, streichelt dort eine Schnauze.

Ihre Mitarbeiter säubern die Wunden der Kühe, schienen gebrochene Beine, spritzen Antibiotika und Schmerzmittel. Allein für Medikamente gibt Brüning monatlich etwa 5.000 Euro aus. Ihr Goshala ist ein Krankenhaus für Kühe und manchmal, wenn alle Hilfe zu spät kommt, auch ein Hospiz. Dann leistet Brüning Sterbehilfe, gibt Schmerzmittel, damit die Tiere in ihren letzten Stunden nicht leiden müssen.

Außerdem tönt rund um die Uhr in jedem Kuhstall ein Mantra aus Lautsprechern: «Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna, Hare, Hare, Hareram, Hareram, Ram, Ram, Hare». Denn wer zur Stunde des Todes den Namen Gottes hört, der gelangt direkt in den Himmel, glaubt Brüning.

Zweimal am Tag machen Mitarbeiter sauber, sammeln kiloweise Kuhfladen ein und lagern sie zum Trocknen. Die Bauern kaufen ihr den Dung ab - die einzige Einnahmequelle für Brüning. Umgerechnet etwa 30 000 Euro gibt sie monatlich aus. Etwa drei Viertel davon kommen über Spenden rein, den Rest zahlt sie aus der eigenen Tasche. Ihr Vater besitzt Immobilien in Berlin, ihren Teil der Einnahmen steckt Brüning in den Goshala. «Wenn das Erbe alle ist, dann ist es alle. Ich verdiene ja nichts.»

Seit 40 Jahren lebt Brüning in Indien, einmal im Jahr reist sie zurück nach Deutschland, um ihren Vater zu besuchen. Ganz zurückgehen, das kann sie sich nur schwer vorstellen. «Die Kühe sind meine Kinder», erklärt sie.

Zwischen all den Kälbern humpelt auch ein kleines Büffelkalb umher. Das hat eigentlich nichts zu suchen zwischen all den heiligen Tieren - aber auch für ein Büffelkalb hat Friederike «Sudevi» Brüning einen Platz in ihrem Herz und in ihrem Kuhstall.

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Ernst Schwartz 15.10.17 11:06
Immerhin leben 60 Familien vom Kuhsanatorium
Tierliebe in Ehren. Der Aberglaube von Gottes Namen hören in der Todesstunde, Himmel, etc. passt zu allem anderem Unsinn, der mehr Unheil angerichtet hat und immer noch anrichtet, als Politik, Seuchen und Unwetter. Solange religiöse Lehren irgendwelcher Art gelebt werden, bleiben Friede und Ruhe aus, aber vermutlich werden sich dann Gruppierungen wegen anderer Unterschiede bekämpfen und bekriegen. Die Veganer haben ja bereits damit begonnen.