Die Blättersammler

In einem Dorfe am Saume des Waldes lebten die Bewohner von dem, was sie im Walde sammeln und auf dem Markt verkaufen konnten. Dieser Wald war berühmt wegen der grossen und glatten Blätter, die man dort fand. Diese schindelartigen Blätter liessen sich nämlich gut verwenden, die Dächer der Hütten damit zu decken. Am Ende der kühlen Jahreszeit pflegten die Dorfbewohner beim Morgengrauen in den Wald zu gehen, um die des Nachts heruntergefallenen Blätter aufzuheben, und in Bündeln nach Hause zu tragen.

In einer der Hütten des Dorfes lebte ein Grossvater mit seinem Schwiegersohn. Der Alte war noch rüstig. Er arbeitete gern und viel, darum erhob er sich stets noch vor Tagesanbruch, weckte seinen Schwiegersohn, denn er sollte ihm beim Blättersammeln Gesellschaft leisten. Dem jungen Mann jedoch gefiel es gar nicht, geweckt zu werden mitten aus dem süssesten Schlummer.

Er dachte nach, wie er es anstellen sollte, dass der Schwiegervater ihn nicht mehr allmorgendlich aufscheuchte, dass er zur Vernunft kam, ja sein grausames Tun bereute.

Eines Tages zogen sie einträchtig miteinander in den Wald , um ihre morgendliche Blätterernte zu halten. Als der Sohn ein paar Blätter gebündelt hatte, sagte er zum Vater, er wolle nun ein Weilchen fortgehen, um Pilze und Bambussprossen zu sammeln für das gemeinsame Mahl. Wenn der Vater genug Blätter zusammengetragen habe, möge er mit der Ernte des Tages nur schon vorausgehen.

Der Alte sputete sich und brachte von fern und nah eine Menge Blätter zusammen, die er in handlichen Bündeln in dem grossen und breiten Bambuskorb stapelte, bis er voll, ja übervoll war. Dann hob er den Korb hoch und lud ihn sich auf die Schulter. Diesmal kam ihm sein Korb besonders schwer vor, aber er hatte ja auch mehr Blätter als gewöhnlich zusammengetragen. Er verlor also weiter keine Zeit und machte sich auf den Weg zum Dorfe, ohne auf seinen Schwiegersohn zu warten. Zu Hause angekommen, setzte er die schwere Schulterlast ab, nahm sein Bad und wendete sich der Hausarbeit zu. Er sagte ein ums andre Mal zu sich selbst:

"Heute habe ich eine gewaltige Menge Blätter zusammengebracht; gepackt und gepresst habe ich sie Lage um Lage, kaum konnte ich die Last heben und mir auf die Schulter laden.”

Als er das sagte, hörte er es unten in seinem Korbe rascheln. Schnell trat er hinzu, um nachzusehen. Da wühlte sich doch tatsächlich ein Wesen durch die Blätter aus dem Korbe hervor, und das war niemand anders als sein Schwiegersohn!

Nun war es offenbar, der Junge hatte ihm einen Streich gespielt: ihn hatte er aus dem Walde nach Hause geschleppt, unter den Blättern verborgen. Aber der Alte schwieg. Er verschloss den Groll in seinem Herzen und presste die Lippen zusammen: der Tag würde kommen, an dem er seinem Schwiegersohn die Beleidigung heimzahlen könnte. Von Stund an lauerte er auf die Gelegenheit zur Rache.

Eines Tages hatte der Schwiegersohn mehr Blätter als sonst gesammelt und erst in den einen, dann in den andren Korb gelegt. Aber jedes Mal ging er wieder los, um noch mehr zu holen. Das war für den Schwiegervater die lange erhoffte Gelegenheit. Er nahm die Blätter aus den Körben, in den einen legte er Wackersteine aus dem nahen Bach, die er sorgfältig mit Blättern verhüllte, in den andren kletterte er selbst hinein und deckte sich mit einer Menge Blätter zu. Der Schwiegersohn verteilte bei seiner Rückkehr, was er mitgebracht, auf die Körbe, dann steckte er eine Tragstange durch die Bügel und nahm die Last auf. Er vermochte kaum, sie vom Boden zu lüften, so schwer kam sie ihm vor. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dachte er bei sich. Nein. Das könnte nichts anderes bedeuten, als dass sich sein Schwiegervater unter den Blättern im Korbe verbarg.

Während er unter seiner Last vorwärts schwankte, ersann er ein Mittel, den Alten schon jetzt und nicht erst nach all der Schlepperei im Dorfe zu entlarven. Er setzte die Körbe am Uferdamm des nahen Baches ab und kehrte ein paar Schritte in den Wald zurück, wie um auszutreten. Als er zurückkam, nahm er seine Buschmesser aus dem Bambusköcher und begann, die flachen Klingen im Rhythmus zu reiben und klopfen und klappern zu lassen, erst leise, dann langsam immer lauter. Das hörte sich an wie das Klimpern des Kettengeschirrs von Arbeitselefanten, die mit ihren Führern aus dem Holze zur Tränke kamen. Mit verstellter Stimme rief er:

"Kratho, wer hat denn diese ganzen Hindernisse mitten auf dem Elefantenpfad aufgestellt? Die Tiere werden sie gleich niedertrampeln, wie sollten sie sonst ans Wasser kommen?”

Das rief er mit lauter Stimme von oben herab in die Körbe. Der Schwiegervater im Korb spürte schon das kräftige Stampfen der Elefanten. Da hielt es ihn nicht länger in seinem Versteck. In Panik versuchte er, sich aus der Blätter Last zu befreien. Der Korb fing an zu schwanken, lehnte sich zur Seite und rollte die Uferböschung hinab ins hüfttiefe Wasser des Baches. Dort erst gelang es dem Alten, aus seinem Gefängnis freizukommen. Schnaufend und nach Atem ringend bahnte er sich durch das Gewirr der Blätter den Weg aufs Trockene. Ohne umzublicken lief er, so schnell ihn die Beine tragen konnten, nach Haus. Seinem Schwiegersohn wollte er an diesem Tage nicht mehr begegnen.

Von nun an liess er ihn in Ruhe. Nie mehr forderte er ihn frühmorgens auf, zum Blättersammeln mitzukommen.

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