Der Kokoslöffel

Schon lange ist es her. Da lebten zwei Männer. Sie waren Freunde seit frühester Jugend. Als die Zeit gekommen war, traten sie gemeinsam ins Kloster ein. Ihr Ordensjahr verbrachten sie zusammen, und zur gleichen Zeit kehrten sie dem Tempel wieder den Rücken. Zum Abschied trafen sie eine Verabredung. Sie würden ihre Freundschaft auch aus der Ferne weiter pflegen und einander Mitteilung machen, wenn es Veränderungen in ihrem Leben geben mochte.

Die Regeln der Mönche hatten nun keine Gültigkeit mehr für sie. Ihr weltliches Dasein erforderte, dass sie sich einen Beruf erwählten, der sie ernähren würde. Der eine von ihnen hatte es gut getroffen. Er wurde reich. Dem Freund gelang das nicht. Er blieb arm.

Der reiche Freund nahm sich eine Frau. Sie wohnten beieinander in Freude und Glück, und nach einer Weile wurde ihnen ein Kind geboren. Als das Kind neun Jahre alt geworden, war der Augenblick gekommen für das Fest, bei dem die Locke, aufgebunden zum kindlichen Haarknoten, gelöst und geschnitten wird. Die Eltern schickten Einladungen aus an die vertrauten Freunde und lieben Verwandten. Auch der Freund in seiner Armut wurde geladen, an dem Festmahl teilzunehmen.

Der glückverheissende Tag war da. Die Verwandten und Gäste kamen beim Hause des Gastgebers an. Er lud sie ein, über die Leitertreppe heraufzukommen und auf dem Lattenboden des Freiplatzes vor dem Wohnhause Platz zu nehmen. Seinem alten Freunde jedoch verwehrte er den Zutritt. Er musste sich unten zwischen den Pfosten des Hauses niederlassen, denn sein Gewand war zerschlissen. Wenn er ihn hinaufgebeten hätte, wo die vornehmen Gäste sassen, so hätte er sich schämen müssen. Also blieb der Freund unten beim Gesinde.

Die Mahlzeit war gerichtet. Die hochgeehrten Gäste speisten miteinander oben im Hause. Der reiche Gastgeber schickte seinen Arbeitern ihre Nahrung und dazu ein paar Scherben aus den Schalen einer Kokosnuss als Löffel, denn von den wertvollen Bestecken für die geladenen Gäste mochte er keines missen, auch nicht für seinen Jugendfreund dort unten beim Gesinde.

Arm war dieser dran, und er schämte sich. Sein Herz ward ihm schwer ob der Zurücksetzung. Das Versprechen immerwährender Freundschaft, das sie einander gegeben, war zerbrochen. Der Freund raffte sich auf, als er ein paar Happen gegessen hatte, und er nahm die Scherbe der Kokosnuss mit, die ihm der Freund als Löffel gegeben.

Nun widmete er sich wieder der Arbeit auf dem Felde. Er hackte und grub die Erde um, damit der Acker zur Ernte bestellt werden könnte. Wenn er müde wurde, hielt er ein. Dann kam es vor, dass er seinen Kokoslöffel aus der Tasche zog und versonnen betrachtete. Und jedes Mal, wenn das geschah, gab er sich einen Ruck, erhob sich und nahm die Arbeit wieder auf. So ging es den ganzen Tag, und er schonte sich nicht. Wenn er sich ausruhen wollte, glitt ihm sein Kokoslöffel in die Hand, und wenn er ihn anschaute, musste er aufstehen und ungesäumt seine Arbeit fortsetzen, geschäftig und rastlos bis zum Abend.

So ging es fort, Tag für Tag, und nicht lange, da fiel die Armut von ihm ab. Er wurde reich. Silber und Gold flossen ihm zu, und das kam nur von seiner Hände Arbeit auf dem Acker und auf dem Feld.

Nun besass er Silber und Gold. Er warb um eine Frau, und sie schenkten einander Glück und Freude. Bald wurde ihnen ein Kind geboren. Als es neun Jahre alt war, veranstalteten Vater und Mutter das Fest, bei dem der Haarknoten fällt. Dazu wurden die Verwandten und Freunde geladen, darunter auch jener Jugendfreund. Doch als sie alle zur festgesetzten Stunde kamen, zeigte es sich, dass der reiche Freund inzwischen verarmt war. Der Gastgeber liess seinen Gästen von dem Festmahl reichen und achtete darauf, dass alle den Speisen nach Herzenslust zusprachen. Als ein jeder gesättigt war, zog der Freund, der einst arm gewesen, ein Stück einer Kokosschale aus seinen Gewändern. Er hielt es hoch, damit jedermann es sehen konnte, wendete sich seinem Freunde zu und sprach:

"Freund, oey, dass ich so reich gesegnet worden an Silber und Gold, das kommt von dieser Kokosscherbe, die du mir einst als Löffel gereicht. Dir allein, mein Freund, habe ich dies alles zu verdanken!”

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