Brexit-Prozess: Streit um die Scheidung Großbritanniens von der EU

Foto: epa/Andy Rain
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LONDON (dpa) - Mit Spannung erwarten nicht nur die Briten ein Urteil des höchsten Gerichts zur Scheidung ihres Landes von der Europäischen Union. Es geht um die Frage: Hat das Parlament trotz des Votums des Volkes noch ein Mitspracherecht beim geplanten Brexit? Der Richterspruch am Dienstag könnte erheblichen Einfluss darauf haben, wann und unter welchen Bedingungen die Trennung erfolgt.

ZERRÜTTETE BEZIEHUNG: Es sei «keine einvernehmliche Scheidung», hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nach dem knappen Sieg der Brexit-Befürworter beim Referendum im vergangenen Juni gesagt. Aber es sei «auch nie ein enges Liebesverhältnis» gewesen. Großbritannien, so meinten viele auf der Insel, müsse zu viel an die EU zahlen und bekäme zu wenig aus der Gemeinschaftskasse heraus. Ob Engpässe im Gesundheitssystem, Wohnungsnot oder Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt - für viele Probleme wurden vor allem die EU-Einwanderer aus Osteuropa verantwortlich gemacht.

SCHMERZHAFTE TRENNUNG: Spätestens Ende März will die britische Regierung die förmliche Austrittserklärung gemäß Artikel 50 des Lissabon-Vertrags nach Brüssel schicken. Zwei Jahre sind für die Verhandlungen vorgesehen. Viel zu wenig, um die komplexen Fragen zu klären, die sich für das zukünftige Verhältnis zwischen London und den 27 verbleibenden EU-Staaten stellen. Der kürzlich von seinem Amt zurückgetretene britische Chefdiplomat in Brüssel, Ivan Rogers, schätzte Berichten zufolge, dass es zehn Jahre dauern könnte, bis die Briten ihr neues Verhältnis zu EU geklärt haben werden.

STREIT VOR GERICHT: Die Regierung hält das Votum der Wähler beim Brexit-Referendum für einen Handlungsauftrag durch das Volk, dem kein Parlamentsbeschluss mehr folgen muss. Ihre Gegner argumentieren, in einer parlamentarischen Demokratie müsse das Parlament das letzte Wort haben. Das Referendum ist in ihren Augen nur eine Empfehlung, die keine unmittelbaren Auswirkungen hat.

SCHEIDUNGSMODALITÄTEN: Die britische Premierministerin Theresa May legte am 17. Januar in einer lange erwarteten Grundsatzrede offen, was sie will: nicht nur die Trennung von der EU, sondern auch vom europäischen Binnenmarkt. Stattdessen erhofft sich May ein «umfassendes Freihandelsabkommen» mit der EU. Doch ihre Rede war zwiespältig. Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Ton und warnte zugleich die EU, Großbritannien «bestrafen» zu wollen.

BESTE FREUNDE BLEIBEN? Die Befürworter eines klaren Bruchs mit Brüssel fürchten bei einer Niederlage vor Gericht, EU-freundliche Abgeordnete könnten den geplanten «harten Brexit» verwässern. Zudem könnte ein Gesetzgebungsprozess den ambitionierten Zeitplan durcheinanderbringen. Das wollen sie mit allen Mitteln verhindern.

EMOTIONEN: Medien bezeichneten den Prozess auch als «Brexit-Schlacht». Als er im vergangenen Dezember begann, erinnerte der Vorsitzende Richter David Neuberger daran, dass es nicht darum geht, «das Ergebnis des Referendums zu kippen», sondern ausschließlich um rechtliche Fragen. Die Richter des High Courts waren zuvor von einer Zeitung als «Feinde des Volkes» verunglimpft worden, weil sie im Sinne der Parlaments entschieden hatten. Die politische Aktivistin Gina Miller, auf die ursprünglich der Brexit-Prozess zurückgeht, wurde mehrfach bedroht.

DAS URTEIL: Die Richter des Supreme Courts müssen nun im Berufungsverfahren entscheiden, ob die Regierung oder das Parlament das Recht hat, den Austritt aus der EU einzuleiten. Noch nie zuvor waren alle elf Richter mit einem Fall gleichzeitig befasst. Sollte das Urteil zugunsten des Parlaments ausfallen, stehen noch viele Fragen aus. Beispielsweise, ob eine einfache Abstimmung im Parlament genügt oder ob ein aufwendiger Gesetzgebungsprozess notwendig ist.

KRACH MIT VERWANDTEN: Schottland, Wales und Nordirland fordern ein Mitspracherecht für ihre Volksvertretungen. Sollten sie auch die Richter davon überzeugt haben, könnte das den Brexit zusätzlich verzögern. Die Schotten haben mit deutlicher Mehrheit gegen einen EU-Austritt gestimmt. Die Regierung in Edinburgh will die Bindung an die EU so eng wie möglich gestalten oder unabhängig werden. In Nordirland stehen Anfang März Neuwahlen an. Das könnte die Scheidung noch komplizierter machen.

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