Ausnahmezustand: Ende ohne Entwarnung

Foto: epa/Yoan Valat
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PARIS (dpa) - Der Ausnahmezustand in Frankreich läuft aus. Doch weil die Terrorgefahr nicht gebannt ist, hat das Parlament zentrale Notstands-Regeln ins normale Recht übernommen. Menschenrechtler sehen Freiheitsrechte in Gefahr - andere fürchten einen geschwächten Staat.

Fast zwei Jahre ist es her, dass Frankreichs damaliger Präsident François Hollande den Ausnahmezustand verkündete. Mit bebender Stimme wandte der Sozialist sich damals an seine Landsleute - gerade erst hatten Islamisten am 13. November 2015 bei Anschlägen in Paris ein Blutbad angerichtet. Der unter diesen dramatischen Umständen verhängte Notstand war ursprünglich nur für einige Monate geplant, wurde aber angesichts immer neuer Anschläge sechsmal vom Parlament verlängert. Erst jetzt wagt Frankreich den Ausstieg, am Mittwoch ist der letzte Tag des Ausnahmezustands.

Ein Schritt zurück zur Normalität für das terrorgeplagte Land? Symbolisch sicherlich - Präsident Emmanuel Macron hatte das Ende mit großen Worten angekündigt: «Ich werde die Freiheit der Franzosen wieder herstellen», sagte er im Sommer. Doch Menschenrechtler, die seit Langem ein Ende des Ausnahmezustands fordern, sind skeptisch. Denn zentrale Sonderrechte bleiben den Behörden vorerst erhalten - dafür sorgt ein neues Gesetz, das Macron gerade unterzeichnete.

«Letztlich wird der Ausnahmezustand faktisch nicht komplett aufgehoben», kritisiert Dominique Curis von Amnesty International im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Die Entscheidung ist für die Regierung eine Gratwanderung zwischen der Kritik an der Einschränkung von Grundrechten und der Sorge vor neuen Anschlägen. Der Ausnahmezustand hatte es den Behörden ermöglicht, präventiv gegen mutmaßliche Gefährder vorzugehen, selbst wenn nicht genug vorliegt, um Justizermittlungen einzuleiten. Mehr als 4.400 Hausdurchsuchungen wurden unter Ausnahmerecht durchgeführt, zeitweise 400 Menschen unter Hausarrest gestellt. Die meisten Maßnahmen gab es jedoch kurz nach den Paris-Anschlägen, danach sank die Zahl rapide - zuletzt standen noch 41 Menschen unter Hausarrest.

Die Regierung hielt es aber für zu riskant, einfach so aus dem Ausnahmezustand auszusteigen. «Die terroristische Bedrohung bleibt groß», warnte Innenminister Gérard Collomb. Das neue Sicherheitsgesetz übernimmt daher zentrale Ausnahme-Maßnahmen in abgeschwächter Form ins normale Recht, befristet bis Ende 2020.

Das bedeutet konkret: Auch weiterhin können die Behörden präventiv Wohnungen durchsuchen und die Bewegungsfreiheit von Menschen einschränken, die sie für Gefährder halten. Die Durchsuchungen heißen jetzt offiziell «Visiten» und brauchen vorher die Genehmigung eines Richters, und statt Hausarrest kann nur noch angeordnet werden, die eigene Gemeinde nicht mehr zu verlassen.

Trotzdem: «Die Logik ist, der Exekutive mehr Macht zu geben», sagt Amnesty-Expertin Curis. Und das auf einer «sehr vagen Basis», die viel Interpretationsspielraum lasse. Minister Collomb wies Kritik zurück: Das neue Antiterrorgesetz sei ein «gerechtes Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit». Es ist vor dem Hintergrund dieser Debatte kein Zufall, dass Präsident Macron just an diesem Dienstag demonstrativ den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besucht.

Für den deutschen Politikwissenschaftler Matthias Lemke, der derzeit in Paris arbeitet und sich mit dem Ausnahmezustand in Demokratien befasst, steckt hinter dieser «Form des Nicht-Ausstiegs» politisches Kalkül. «Ich glaube, für Regierungen unserer Zeit ist Sicherheit ein ganz zentrales Motiv, an dem sich auch Legitimität ermisst», sagt er. Ein Ausstieg aus dem Ausnahmezustand ist für die Verantwortlichen riskant - sie kämen in Bedrängnis, falls kurz darauf ein neuer Anschlag geschieht. Macrons Vorgänger Hollande hatte im Sommer 2016 auch schon ein Ende des Ausnahmezustands angepeilt - und machte dann nach dem Anschlag von Nizza eine Kehrtwende.

Aus der konservativen Opposition gab es schon Kritik am Ende des Ausnahmezustands. Erstmals seit 2015 schwäche die Regierung die Werkzeuge des Staates im Anti-Terror-Kampf, so der Abgeordnete Eric Ciotti.

Die Frage nach den Effekten des Ausnahmezustands ist umstritten und schwer zu beantworten. Der frühere Innen- und Premierminister Bernard Cazeneuve hatte im Sommer nach seinem Ausscheiden aus der Regierung versichert, «zahlreiche Anschläge» seien dank des Notstandsrechts verhindert worden. Kritiker argumentieren dagegen, dass nur recht wenige Durchsuchungen zu Justizermittlungen geführt hätten. Es sei sehr schwierig, die Wirkung zu messen, sagt Amnesty-Vertreterin Curis. «Man sieht aber, worauf man verzichtet.» Sie meint, dass der Verzicht auf Freiheitsrechte sich als Niederlage gegenüber Terroristen erweisen könne, die genau diese Freiheit angreifen.

Das Ende des Ausnahmezustands wird somit kein Schlussstrich unter der seit Jahren schwelenden Debatte über den Umgang mit dem Terror sein. Und auch die Soldaten werden nicht aus dem Bild französischer Städte verschwinden. Ihr Anti-Terror-Einsatz Sentinelle an stark frequentierten Plätzen geht weiter.

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