Als wäre es gestern gewesen - Italien nach den Erdbeben

Foto: epa/Emiliano Grillotti
Foto: epa/Emiliano Grillotti

ROM (dpa) - Vor sechs Monaten bäumte sich die Erde in Mittelitalien auf und riss fast 300 Menschen in den Tod. Es war der Beginn einer Erdbebenserie, die Verwüstung in die kleinen Dörfer und Gemeinden brachte. Normal ist dort noch lange nichts.

Noch immer liegt eine pinke Kindertasche zwischen den Trümmern. In einem Kleiderschrank hängen seit August Jacken und Blusen an der Stange. Sechs Monate nach dem verheerenden Erdbeben in Mittelitalien scheint es, als wäre die Region erst gestern von der Naturgewalt heimgesucht worden. Durch den zerstörten Kern der einst pittoresken Altstadt von Amatrice schlängelt sich nun zwar eine Straße in Richtung Stadtturm, der zum Mahnmal geworden ist. Gesäumt aber ist sie von Schutt- und Trümmerbergen. Staub liegt in der Luft. Kein Stein liegt hier mehr auf dem anderen.

Wenige hundert Meter von der «zona rossa», der roten Zone, ist im operativen Einsatzzentrum in Amatrice Routine eingekehrt. In dem Containerkomplex laufen am Schreibtisch von Fabrizio Cola alle Fäden zusammen. Auf einer Landkarte sind mit schwarzem Edding eingekreist: Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto, Norcia. Die Namen der kleinen Gemeinden stehen für Verwüstung und Zerstörung, seit am 24. August um 3.36 Uhr die Erde bebte.

Allein in Amatrice waren 237 der 299 Todesopfer zu beklagen. Und als läge ein Fluch über der Region, bebte es wieder. Zweimal im Oktober, viermal an einem Tag im Januar. Zuletzt tat die Last des Schnees ihr Übriges und ließ einstürzen, was noch nicht eingestürzt war.

«Jedes Mal fangen wir wieder von vorne an», sagt Fabrizio Cola. Es heißt, dass in Mittelitalien in einem Gebiet von etwa tausend Quadratkilometern an der Grenze der Regionen Marken, Latium, Umbrien und Abruzzen jedes zweite Haus unbewohnbar ist. «Die Priorität ist, eine positive Antwort auf das zu geben, was passiert ist», sagt Cola.

Doch bislang gibt es in der Stadt wenige Hoffnungsschimmer. Soldaten, Carabinieri, Polizisten, Mitarbeiter des Zivilschutzes oder der Feuerwehr sind auf den Straßen von Amatrice omnipräsent - und sie sind auch die einzigen Kunden in der «Bar del Rinascimento», der Bar der Wiedergeburt. Fabio Magnifici hat sie nach dem Erdbeben eröffnet. «Ohne ein neues Projekt kann man nicht in die Zukunft starten», sagt der 47-Jährige, der in Amatrice bleiben will.

Wenn alle Bürger von Amatrice so denken würden wie der Barbesitzer, wäre Sergio Pirozzi vermutlich bereits ein bisschen ruhiger. Der Bürgermeister sitzt in seinem improvisierten Büro gegenüber dem Einsatzzentrum. «Die größten Probleme sind die hier», sagt Pirozzi und tippt sich mit dem Zeigefinger an den Kopf.

Das Erdbeben habe nicht nur die Häuser und die Straßen zerstört, sondern die Menschen. Der ehemalige Fußballtrainer, der seit dem August als Bürgermeister im Dauereinsatz ist, will nicht mehr über Zahlen und Daten sprechen. «Mit der Zeit wird schon alles aufgebaut sein. Die Sachen sind im Gang.» Die Gemeinde könne sich auf den Staat verlassen und dann seien da ja noch die 12 Millionen Euro an Spenden. Es ist auch Pirozzis Präsenz in den Medien zu verdanken, dass Amatrice zum Symbol der Katastrophen in Mittelitalien geworden ist.

Manch einer außerhalb der Gemeinde fühlt sich schon als Bürger zweiter Klasse. Etwa im 20 Kilometer entfernten Accumoli. «Wir haben weniger Opfer zu beklagen, aber die Verwüstung ist so schwerwiegend wie in Amatrice», sagt Bürgermeister Stefano Petrucci.

In seinem Dorf kann momentan niemand mehr leben. Die meisten der etwas mehr als 650 Einwohner wohnen nun an der Adria-Küste. «Es ist schmerzhaft, dass wir das Dorf verlassen mussten», sagt Petrucci. Priorität sei, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und dass die Menschen an ihren Ort zurück könnten. Bis Ende Mai soll es provisorische Unterkünfte geben. Doch anders als in Amatrice kann eine baldige Zukunft des Dorfes nur außerhalb seines eigentlichen Kerns liegen. Denn wo keine Trümmerberge stehen, fällt der Berg steil ab ins Tal.

Soldaten lassen nur Feuerwehrleute passieren, die seit Monaten zwischen den Trümmern graben, Häuser einreißen, Straßen freilegen. Journalisten brauchen eine Genehmigung des Bürgermeisters, dürfen nur wenige Fotos machen. An einigen Häusern geht es schnellen Schrittes vorbei, zu groß ist die Gefahr, dass sie auch noch einstürzen. Eine Katze streift durch die Straße, Vögel zwitschern. Sonst ist es still.

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