Al-Kaida übernimmt syrische Provinz Idlib

Menschen durchsuchen die Trümmer einer Schule in Idlib. Foto: epa/Abed Kontar
Menschen durchsuchen die Trümmer einer Schule in Idlib. Foto: epa/Abed Kontar

IDLIB (dpa) - Wer die syrische Stadt Idlib jetzt regiert, machen die neuen Herrscher schon an den Zufahrtsstraßen deutlich. Dort haben die Kämpfer des syrischen Ablegers des Terrornetzwerks Al-Kaida Posten errichtet, um den Verkehr zu kontrollieren. Bewaffnete Männer mit ernsten Gesichtern überprüfen Taschen und Mobiltelefone: «Wo kommst Du her? Warum willst Du in die Stadt», fragen sie jeden Passanten. Nur wenn die Antwort sie zufriedenstellt, geben sie den Weg frei.

Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt ist nach mehr als sechs Jahren Bürgerkrieg das einzige Gouvernement des Landes, das noch vollständig unter Herrschaft von Gegnern der Regierung steht. Bis vor wenigen Wochen teilten sich mehrere Rebellengruppen die Macht. Doch Ende Juli übernahm der Al-Kaida-Ableger Haiat Tahrir al-Scham (HTS) nach kurzen Kämpfen mit seinem radikal-islamischen Kontrahenten Ahrar al-Scham die komplette Provinz - ein Erfolg der Extremisten mit weitreichenden Folgen.

Moderatere Gruppen spielen damit im Bürgerkrieg kaum eine Rolle mehr. Nur in wenigen Gebieten Syriens haben sie noch nennenswerten Einfluss. In Idlib gebe es keine Rebelleneinheit mehr, die den Extremisten die Stirn bieten könne, sagt Faris al-Bajusch, bis zum Frühjahr führender Kommandeur der FSA-Gruppe Freie Armee Idlibs. Auch der in Beirut ansässige Syrien-Experte Sam Heller sieht den Al-Kaida-Ableger, der früher unter dem Namen Al-Nusra-Front agierte, als «unangefochtenen Hegemon» der Provinz: «Alle anderen kleineren Gruppen haben keine andere Chance, als auf den Zug aufzuspringen.»

Al-Bajusch machte für die Entwicklung die Konkurrenz zwischen den vielen Rebelleneinheiten verantwortlich, die sich nie auf eine einheitliche Führung einigen konnten. Aber auch vom Ausland, nicht zuletzt von den USA und vom Westen, fühlt sich der Ex-Rebellen-Kommandeur im Stich gelassen. «Die Machtübernahme von HTS geschah unter den Augen der internationalen Gemeinschaft», klagt er. «Sie hat keinen Finger gerührt.» Hilfe von außen gebe es für die Rebellen kaum noch.

Idlibs Einwohner beobachten die Entwicklung mit Sorge. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie stark Al-Kaida ihre radikale Lesart des Islams durchsetzt. Ein Aktivist aus dem Ort Kurin erzählt, die Extremisten kontrollierten Straßen und konfiszierten Tabak. «Das Leben ist jetzt sehr ähnlich dem Leben in Afghanistan unter den Taliban.» In der Stadt Idlib aber sind Frauen ohne Gesichtsschleier weiter auf der Straße zu sehen. Auch Zigaretten - bei Al-Kaidas Konkurrenten, der IS-Terrormiliz, verboten - werden offen verkauft.

Angst bereiten den Menschen auch mögliche Luftangriffe der USA und Russlands, die die Dschihadisten bekämpfen. Offiziell hat sich HTS zwar von Al-Kaida losgesagt - doch an ein tatsächliches Ende der Partnerschaft mit dem Terrornetzwerk glaubt kaum jemand.

Der Provinz könnte auch eine Regierungsoffensive drohen, für Zehntausende ein Alptraum, die vor den Anhängern von Präsident Baschar al-Assad hierhin geflohen sind. Der Englisch-Lehrer Abdulkafi al-Hamdo gehört zu denjenigen, für die Idlib zur Endstation geworden ist, weil auch die Türkei die Grenze geschlossen hat. «Die Menschen können nirgendwo mehr hin», sagt Al-Hamdo. «Sie können nur sterben oder sich dem Regime ergeben. Sie haben Angst, darüber nachzudenken.»

Alarmiert sind auch die Hilfsorganisationen. Mit Idlib hat Al-Kaida zugleich einen Teil der Grenze zur Türkei und den Grenzübergang Bab al-Hawa übernommen. Al-Kaida nutzt Zolleinnahmen als Geldquelle. Über Bab al-Hawa kommen aber auch Hilfslieferungen, auf die Idlib dringend angewiesen ist. Fast eine Million Flüchtlinge haben dort laut UN Zuflucht gefunden, von denen viele in Lagern ausharren. 1,3 Millionen von zwei Millionen Menschen in der Provinz sind demnach auf Hilfe angewiesen.

Mehrere Hilfsorganisationen berichten, bislang könnten sie ungestört weiterarbeiten. Auch Lebensmittel und Medikamente kämen nach wie vor über die Grenze. Doch Geldgeber im Westen befürchten, dass ihre Hilfe den Anhängern der Terrororganisation zugute kommen könnte.

Berlin finanziert humanitäre Hilfe weiter. Andere Projekte, die zivile Strukturen stärken und die Basisversorgung etwa mit Strom und Wasser gewährleisten sollten, seien jedoch «vorerst suspendiert» worden, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Es sei nicht zu garantieren, dass die Hilfe diejenigen in vollem Umfang erreiche, für die sie bestimmt sei.

«Wir achten peinlich darauf, keinen Kontakt mit HTS zu haben», sagt der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. «Von Seiten der Geldgeber gibt es viel Druck. Sie haben klar gemacht, dass jeder Kontakt mit HTS einen sofortige Stopp jeglicher Unterstützung bedeutet.» Dessen sei sich auch Al-Kaida bewusst. Die Extremisten wissen also: Sollten sie ihre Macht offen und allzu dominant ausüben, droht ein Stopp aller Hilfslieferungen und damit eine humanitäre Katastrophe.

Zuletzt gab es intensive diplomatische Kontakte zwischen den wichtigsten ausländischen Akteuren in Syrien: der Türkei, dem Iran, Russland, den USA. Dabei wird es auch um Idlib gegangen sein. «Es gibt verschiedene Szenarios», sagt ein Mitarbeiter einer anderen westlichen Hilfsorganisation. «Es ist jetzt ein politisches Spiel. Und der größte Verlierer werden die schutzlosen Zivilisten sein.»

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