Ab in die Schublade!

Ab in die Schublade!

Der ist zu fett. Die ist viel zu dürr. Der sieht freundlich aus. Die ist zickig. Die ist hässlich, der wirkt sehr nett. Die ist schlampig, der sehr gepflegt.

Innerhalb von Sekunden nachdem ersten Sehen entscheiden wir über Sympathie oder Antisympathie. Die Leute werden eingeteilt, sortiert und dann: Ab in die Schublade. Oft stellt sich später heraus, dass wir mit unserer Entscheidung falsch lagen: Der freundliche Herr entpuppte sich als Heiratsschwindler und die Schlampe als eine verarmte, aber sehr liebevolle Mutter und Freundin. Wir entscheiden viel zu schnell über fremde Menschen, wenden uns von denen ab, die für einen Gruß, ein freundliches Wort dankbar wären, wenden uns stattdessen jenen zu, die attraktiv auf uns wirken. Das führt schließlich zur Entfremdung in der Nachbarschaft, in der Stadt, im Land. Fast könnte man vom indischen Kastenwesen sprechen. Kerstin darf Farid aus dem Iran nicht zu ihrem Kindergeburtstag einladen, Helmut nicht mit York aus Afghanistan spielen. Was ist in unseren Gesellschaften passiert, seit die Grenzen offen sind und überall auf der Welt eine neue Heimat suchen? Ist es Angst vor dem Unbekannten? Fürchten wir das Fremde, das uns aus unserer vertrauten Welt herausreißen könnte? Oder geht es nur um unser Wohlergehen, das von denen bedroht scheint, die weniger haben, als wir oder gar nichts? Ich denke, wir haben verlernt einander zu akzeptieren. Der Satz „Ich bin okay, du bist okay“ gilt nicht mehr. Selbst unter Nachbarschaften herrscht Krieg: Der ist zu laut, der grillt unter meinem Fenster, der schmeißt seinen Dreck auf mein Grundstück. Die Gerichte werden der Klagen kaum noch Herr. Es fehlt an gegenseitiger Rücksichtnahme. Es scheint schwer, sich in andere hineinzuversetzen, in ihre Bedürfnisse und Eigenheiten. Wen wundert es dann noch, wenn auf höherer Ebene Scharmützel entstehen oder gar Kriege? Oft aus den gleichen Gründen. In Thailand ebenso wie überall auf der Welt. Touris­ten regen sich auf über Thais, die ihren Abfall überall am Wegesrand entsorgen, Thais fühlen sich beleidigt, wenn Urlauber sich respektlos gegenüber ihrem Glauben verhalten. Und dann beschweren sich Touristen über Landsleute, die hier halbnackt und verschwitzt im Restaurant herumschwadronieren, während Thais sich schämen über andere Thais, die jegliche Etikette vermissen lassen und in aller Öffentlichkeit Ausländer zum Sex animieren.

Eigentlich ist es ein Wunder, dass bei all diesen unterschiedlichen Verhaltensmustern die Welt nicht lichterloh brennt, dass es immer noch friedliche Ecken auf unserer Erde gibt, wo Menschen einträchtig bei- und miteinander leben. Manchmal – wie beispielsweise in Thailand – müssen sie vom Militär dazu gezwungen werden, manchmal genügt die Androhung von Sanktionen und gelegentlich klappt es ganz von allein.

Wie? Genügt die Einsicht, dass Frieden besser ist als Krieg? Ich plädiere für Toleranz. Öffnet die Schubladen, lasst alle nach ihrer Fasson leben und dem Motto: Freiheit für alle, solange sie meine Freiheit nicht bedrohen. Damit wäre allen geholfen.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.

Leserkommentare

Vom 11. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.