Ab heute sieze ich mich

Ein respektvolles Doppelinterview mit mir zum 80sten

Ab heute sieze ich mich

Ab heute sieze ich mich. Der Grund: Als ich heute Morgen in den Spiegel schaute, sah ich, dass ich ein alter Mann geworden war, dem man seinen Respekt nicht verweigern darf – schon deshalb nicht, weil er so lange einigermaßen erfolgreich, redlich und humorvoll durchs Leben gegangen ist.

„Wie geht es Ihnen heute?“ fragte ich mich. „Danke der Nachfrage. Altersgemäß“, erwiderte ich. „Was bedeutet altersgemäß“, wollte ich wissen. „Nun, es gibt Dinge, die haben früher viel Spaß bereitet, und die gibt es heute nicht mehr.“ – „Welche sind das?“ – „Na, raten Sie mal.“ –„Sex?“ „Ich bin über Ihren Scharfsinn verwundert.“ –„Aber ansonsten…?“ – „Was heißt ansonsten?“ „Gibt es weitere Probleme oder sonst…?“ – „Ja, beim Pinkeln brauche ich heute wesentlich länger, bis der letzte Tropfen draußen ist als früher.“ – „Gibt es denn auch positive Aspekte, die Ihrem Alter geschuldet sind?“ – „Ja, manchmal stehen junge Leute in öffentlichen Verkehrsmitteln auf und bieten mir ihren Platz an.“ – „Sie leben in Pattaya. Wie werden Sie damit fertig?“ – „Ich werde dauernd blöde angequatscht als HELLO PAPA. Was soll das? Wer schläft denn mit seinen Kindern? Das ist doch pervers.“ – „Sonst keine Probleme?“ – „Im Gegenteil. Ich fange an, meinen Unruhestand in Thailand zu genießen.“ –„Auf welche Weise?“ – „Nun, ich lebe stressfrei, sorgenfrei, einigermaßen gesund und lebe jeden Tag als wäre er der letzte.“ – „Und wenn der kommt?“ – „Dann wäre ich bereit, weil ich im Leben so viele glückliche und gute Tage hatte.“ – „Wie war Ihre Kindheit?“ – „Hart, sie fand vorwiegend in Bunkern statt, später in der Schule bei schlagfertigen Lehrern und in den Ferien als billige Hilfskraft bei den Bauern in den Nachbardörfern. Aber ab meinem 17. Lebensjahr habe ich mein Leben in die eigenen Hände genommen. Von dem Zeitpunkt ab ging es für mich bergauf: Tellerwäscher, Abend­abitur, Studium, ZDF-Redakteur, Leiter eines von mir gegründeten Theaters, das heute noch bundesweit die Szene beeinflusst.“ – „Und hatten sie dabei Unterstützung?“ – „Nun, alles kriegt man nicht allein hin. Aber im Grunde habe ich mir alles selbst erarbeitet.“ – „Das klingt so, als müsste man Sie beneiden.“ – „Ja, wenn man bedenkt wie viele Menschen unter schrecklichen Umständen leben, lebten und starben, dann haben Sie vollkommen recht.“ – „Was bedeutet Ihre Existenz für das Leben auf dieser Welt?“ – „Ich bin davon überzeugt, mehr gegeben als genommen zu haben.“ – „Sind Sie religiös?“ – „Mit Religionen kann ich nichts anfangen, aber ich denke, man kann sich zum Beispiel wie ein idealer Christ, Muslim oder Hindu benehmen oder entsprechend handeln, ohne an eine bestimmte Kirche oder Religion zu glauben.“ – „Haben Sie Freunde?“ – „Natürlich. Ohne sie wäre mein Leben ein Alptraum.“ – „Wieso?“ – „Weil meine Familie letztlich versagt hat. Nicht die Eltern, aber die Geschwister. Ich lebe von und mit Wahlverwandtschaften.“ – „Und wie verbringen Sie Ihre Tage?“ – „Ganz einfach. Lange schlafen, duschen, frühstücken, im Internet surfen, lesen, manchmal schreiben, auch Bücher und Romane, abends mit Freunden essen und den Tag mit Wein ausklingen lassen.“ – „Gibt es einen Tipp, den Sie jungen Leuten geben würden?“ – „Nein. Jeder muss seine Lebensweise für sich finden. Aber wenn doch, dann würde ich sagen: Kümmert euch nicht in erster Linie darum, wie ihr reich werdet sondern wie ihr glücklich werdet, denn dadurch werdet ihr reich.“ – „Klingt alles etwas abgeklärt oder anders ausgedrückt, etwas abgedroschen.“ – „Mag sein, aber das Leben ist weitgehend auch abgedroschen, zumindest dort, wo es sorgenfrei verläuft.“ – „Gibt es denn ein sorgenfreies Leben?“ – „Natürlich nicht ununterbrochen: Nächste Angehörige oder Freunde erkranken oder sterben, die eigene Gesundheit liegt auch täglich auf der Waagschale, und rundum sieht man mehr Elend als Glück.“ – „Wie gehen sie damit um?“ – „Es ist mir peinlich darauf zu antworten, aber ich spende einen kleinen Teil meiner Rente für Einrichtungen, die das Elend zu bekämpfen versuchen.“ – „Sie sind weit in der Welt herum gekommen. Reisen Sie noch gern?“ – „Ich habe kürzlich mal nachgerechnet und festgestellt, dass ich fast fünfzig Länder besucht und, soweit es mir möglich war, erforscht habe. Jetzt ist Schluss damit. Jeden Abend woanders den Koffer auspa­cken, jeden Morgen den Koffer wieder einpacken, dazu habe ich keine Lust mehr.“ – „Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann lesen Sie gern Bücher, die andere Leute als sehr anstrengend empfinden.“ „Ja, das bringt mein Hirn in Wallung. Bücher, die mich unterfordern, erinnern mich an Gespräche mit schwachsinnigen Menschen.“ – „Aber diese Leute verachten Sie deshalb nicht – oder?“ – „Ich verachte nur Menschen, die alle Bildungsangebote ignorieren oder ignoriert haben, stattdessen dem Staat auf der Tasche liegen und reaktionäre Sprüche grölen.“ – „Wenn ich all Ihre Äußerungen richtig verstanden habe, dann stehen Sie politisch wohl weit links. Ist das so?“ – „Mit links oder rechts kann ich nicht viel anfangen. Ich stehe auf der Seite der Gerechtigkeit, auf der Seite derer, die unsere Unterstützung brauchen, die vor Krieg und Gewalt geflüchtet sind.“ – „Sie sind bekanntlich seit vielen Jahren Mitglied der SPD in Deutschland.“ – „Das lag damals an Willi Brandt („Mehr Demokratie wagen“!). Das hat mich bewegt. Trotzdem hatte ich nie irgendein Parteiamt inne, noch nahm ich aktiv am Parteileben teil. Später war ich einfach zu bequem um auszutreten. Es gab ja auch keine Partei, die meinen politischen Ansichten näher stand.“ „Haben Sie noch Kontakte in die alte Heimat?“ – „Klar, täglich maile ich mit Freunden, die hin und wieder auch nach Thailand kommen.“ – „Sie fliegen zwei Mal im Jahr für längere Zeit nach Deutschland. Was ist der Grund dafür?“ – „Ich besuche meinen Freund, der als Alzheimerpatient in einem Pflegeheim lebt. Außer mir erkennt er nur noch seine langjährige Freundin, die sich um ihn kümmert, wenn ich hier bin. Er lebt schon längst in einer anderen Welt. Wenn ich bei ihm bin, gehen wir täglich zusammen spazieren und konditern. Ich bin froh, wenn ich sehe, wie sehr er sich darüber freut.“ – „Hätten Sie aus Anlass Ihres 80. Geburtstages einen besonderen Wunsch?“ – „Ja, in einer Welt, die sich in einem bedrohlichen Umbruch befindet, habe ich den Wunsch, dass Europa sich enger zusammenschließt mit dem langfristigen Ziel einer Staatenvereinigung.“

„Eine letzte Frage: Sind Sie ein glücklicher Mensch?“

„Sorry, aber auf die dümmste Ihrer Fragen antworte ich nicht.“

Ihnen aber, verehrte Leserinnen und Leser, wünsche ich frohe Weihnachten.

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